Kolumne

Jahresrückblick 2021: Jakob

Ist es mit 25 schon das Alter? Ich jedenfalls merke auch diesen Dezember mal wieder, dass mir Jahresrückblicke von Jahr zu Jahr schwerer fallen. 2021 habe ich jedenfalls auch gemerkt, dass mein Bezug zu Musik langsam ein anderer wird - aber möglicherweise gerade deswegen stärker als je zuvor ist.

Es gab eine Zeit, da wusste ich überhaupt nicht, wie ich musikalisch auf dieses Jahr zurückblicken würde. 2021 hat sich so viel in meinem Leben geändert wie noch nie. Ich bin stolz auf Vieles, was ich auf dieser Reise gemeistert und vollbracht habe, ich blicke aber auch auf viele Episoden, die einfach nur erdrückend waren. Es gab schließlich einen Punkt, an dem ich innerlich mit Dingen beschäftigt war, die Musik einfach nicht mehr lösen konnte. Das war für mich ein Novum und ich war mir nicht sicher, an welchem Stand ich in dieser Sache schließlich in der Weihnachtszeit sein würde. Jetzt kann ich zum Glück sagen: Ich kann Stück für Stück wieder nach Luft schnappen und Musik hat sich 2021 als so magisch wie noch nie erwiesen, weil es sie dann doch gab - die Momente, in denen sich ein Song so echt in mir offenbarte, dass in mich plötzlich wieder Lebendigkeit zurückkehrte. Ob Trauer, Genuss oder manchmal sogar regelrechte Euphorie, es gab 2021 nichts, was sich dann doch wieder als das konstanteste Mittel zum Fühlen herausgestellt hat. Dafür bin ich so dankbar. 2021 hat sich vielleicht auch deswegen aber als das Jahr erwiesen, in dem mir Releasedaten immer weniger bedeuten. Ich glaube mittlerweile, dass Musik schon in den richtigen Momenten zu einem kommen wird. Deswegen hat sich mein CD-Regal auch mit viel weniger aktuellen Releases gefüllt als sonst - aber Gott, habe ich trotzdem krasse Sachen entdeckt.

Album des Jahres: Alfa Mist - "Bring Backs"

2021 ist das zweite Jahr in Folge, in dem ich ein Album aus der Londoner Jazz-Szene zu meiner Platte des Jahres küre. Generell habe ich viel nachgeholt, was aus diesem unglaublich lebendigen Kosmos in den letzten Jahren rübergeschwappt ist. Yussef Kamaals "Black Focus" hatte ich zum Beispiel seit dem entsprechenden Kreuzverhör (danke, danke, danke Kai!) schon lange in meiner Sammlung, aber erst in diesem Jahr hatte ich das Gefühl, wirklich alles daran gecheckt zu haben und habe die Platte komplett totgehört. Es folgte zum Beispiel noch Kamaal Williams' Solo-Platte und dann eben das hier: Das neue Album von Alfa Mist war eine regelrechte Offenbarung und ich merke schon beim Schreiben dieses Textes, wie ich es wieder auflegen muss (Notiz: Das tue ich jetzt). "Bring Backs" beeindruckt mit seiner unvergleichlichen Lounge-Atmosphäre, mit den völlig unaufgeregten, aber unwiderstehlichen Soli und seiner pointierten Art, auf diesem Geflecht Hip-Hop und Spoken-Word-Parts zu verbauen. Ich wundere mich aber stetig, warum dies 2021 eigentlich genau der Sound war, den ich so oft gebraucht habe. Viele Jahre lang habe ich immer die niederschmetterndsten Platten überhaupt zu meinen Lieblingen erklärt. Touché Amorés "Stage Four", Daughters' "You Won't Get What You Want", Kora Winters "Bitter", selbst Fjørts "Couleur" hatte in all seiner Schönheit viel Destruktives zu bieten. Ich habe lange etwas vertreten, was Jesse Barnett von Stick To Your Guns mir mal gesagt hat, nämlich, dass die besten Songs aller Zeiten immer traurig sind. Warum also suche ich gerade 2021, in einem Jahr, in dem ich so verbittert über Vieles war, nicht nach einem Album, das mich auf diese Weise auffängt? Vielleicht, weil ich in diesem Jahr vor allem nach Gefühl gesucht habe. Und genau das ist "Bring Backs" in jeder Pore: pure, echte Lebendigkeit!

Neuentdeckung des Jahres: Ryoji Ikeda

Es gab so einiges dieses Jahr, an das ich mich erstmals herangetraut habe. Aus Kanye Wests Diskographie habe ich 2021 zum Beispiel drei Platten gekauft und ich finde sie allesamt ziemlich krass. Aber eine der magischsten Entdeckungen war etwas, von dem ein Freund mir schon vor Jahren erzählt hatte, das bei mir aber erst kürzlich so richtig Klick gemacht hat: Ryoji Ikeda ist ein japanischer Musiker, aber er ist eigentlich ein Gesamtkünstler. Seine elektronischen Klangkonstruktionen gehen oft mit gigantischen Videoprojektionen einher und werden in Kunstausstellungen platziert. Ikedas Ästhetik ist geradezu außerirdisch futuristisch, seine Sounds haben eine ungeheuer scharfe und durchgetaktete Ästhetik. Sie wirken dadurch wie vertonte Datennetze und haben auf kuriose Weise etwas sehr Organisches und Einnehmendes - besonders, wenn man die visuell opulenten Installationen dazu nimmt, die im wahren Leben sicher noch einmal bombastischer wirken. Die Musik, die Ikeda auf Ausstellungen verwendet, ist oft sehr ähnlich, seine reinen Musikplatten schlagen aber nochmal eine ganz andere Richtung ein und so habe ich mir dieses Jahr - mit fetten neuen Sennheiser-Kopfhörern - auch ein brillantes Noise-Feuerwerk wie "Supercodex" gegeben, das wahnsinnig anstrengend, aber gleichzeitig sehr antreibend ist. Am unglaublichsten finde ich aber "data-verse 1" von der Biennale in Venedig, bei dem nach neun Minuten hypnotischer Musik plötzlich das Gefühl hat, im Zentrum des Urknalls zu stehen - unbedingt mit Kopfhörern und am besten im Dunkeln geben!

EP des Jahres: Haxan - "Gargoyle"

Ich bin ein ganz schlimmer Fanboy, was Haxan und Kora Winter angeht. Aber man muss auch einfach mal sagen, dass das, was man da aus Berlin ständig angespült bekommt, durchgängig zu dem Besten zählt, was der deutsche Underground hervorbringt. Haxan ist mit seinen letzten Tracks kontinuierlich immer krasser geworden und hatte spätestens mit "Frieden" im letzten Jahr das Potential seines Soloprojekts entfaltet. Aber "Gargoyle" ist die bisherige Spitze: Bombastisches Bläser-Finale in "Der Fremde", epische Drum-Attitüde im Titeltrack, verworrener Rausch in "100gesichter", klaustrophobische Raserei in "Stre$$" - ein genialer Track jagt den anderen und am Ende entsteht ein Gesamtdokument, das gleichzeitig unfassbar nah am Puls der Zeit, innovativ, herzzerreißend emotional und geil zum Ballern ist.

Konzert des Jahres

2021 konnte man zumindest mal wieder über ein Konzert des Jahres nachdenken. Generell bin ich seit der Pandemie etwas bequemer geworden: In wilde Moshpits habe ich mich quasi gar nicht gestürzt und ich habe meine Gigs generell etwas selektiver ausgewählt. Umso schöner, dass ich mir endlich einen kleinen Traum erfüllen konnte und ein eigenes Konzert veranstaltet habe - auch, wenn es mit dem geplanten Konzert zum fünfjährigen AdW-Jubiläum leider nicht geklappt hat. Stattdessen hatte ich in meinem WG-Zimmer (!) meinen Ex-Mitbewohner Joschka Brings und seinen Partner in Crime Moe zu Gast, die ich beide musikalisch wie persönlich unheimlich schätze. Um mich herum standen viele meiner Freund:innen, die Atmosphäre war berauschend und versprühte eine Intimität, die ich so selten in meinem Leben gespürt habe. Einfach nur magisch.

Erkenntnis des Jahres

In diesem Jahresrückblick taucht nicht eine einzige Rockplatte auf. Was zur Hölle ist da eigentlich los? Man mag sagen, dass ich mich einfach verändert habe. Und ich muss gleichzeitig fragen, wie ich in einer Welt noch die Metalkralle in die Luft recken soll, in der ernsthaft Måneskin das nächste Ding sind. Wenn Rockmusik nur noch Konservatismus heißen kann, dann bin ich raus. Die wenigen Lichtblicke, die mich nicht zu Tode langweilen, kommen meistens aus der virulenten Post-Punk-Szene von Großbritannien. Idles oder Black Country, New Road waren auch dieses Jahr Garanten für einen spannenden Sound, der sogar gewisse Wellen schlagen kann. Aber was kam in dieser Richtung in diesem Jahr eigentlich aus Deutschland? Die deutsche Post-Punk-Szene war in diesem Jahr eher still, Max Rieger war mehr mit Casper beschäftigt und auf den Nachfolger zu Karies' überragendem dritten Album "Alice" warte ich nach wie vor vergeblich. Und was ist eigentlich mit den vielen genialen Post-Hardcore-Bands passiert, die noch vor wenigen Jahren eine goldene Platte nach der nächsten veröffentlicht haben? Der Heisskalt-Drummer macht jetzt ziemlich spaßige Pop-Beat-Songs, Fjørts "Couleur" feiert 2022 fünfjähriges Jubiläum ohne Nachfolger und selbst Kind Kaputt haben in ihren neuesten Songs einen ganz anderen Sound vorgelegt - der ihnen aber im Übrigen hervorragend steht. Nur die Newcomer Sperling waren in diesem Jahr in der Lage, noch einmal das Gefühl dieses grandiosen Sounds zu entfachen. Vielleicht bezeichnend, dass ihnen das mit Rap gelingt. Und boah, ist das neue Album von Blackout Problems geil.

Schock des Jahres

Das elfseitige Statement von Kristin Hayter alias Lingua Ignota ist erst wenige Tage alt, während ich diesen Text schreibe. Die Vorwürfe, die Hayter gegen ihren Ex-Freund, den Daughters-Sänger Alexis Marshall erhebt, könnten schwerer kaum sein: Marshall soll sie jahrelang schwer körperlich und seelisch missbraucht haben. Hayters Worte sind explizit und detailreich, die darin enthaltenen Taten kaum zu ertragen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ein derartiger Vorfall mit einer Band passiert, die ich wirklich liebe. Schon als ich mit meinem Kollegen Felix vor ein paar Jahren ein Daughters-Konzert in Hamburg besucht hatte, waren wir verdammt verstört von dem Schauspiel, das Marshall auf der Bühne bot. Aber natürlich dachte ich, das sei alles nur Show. Was in Zukunft mit der Band passieren wird, weiß keiner. Wenn die Bandmitglieder Anstand haben, lösen sie sich auf. In meiner Kommode liegt nun ein Pulli, den ich nicht mehr tragen will. Ich frage mich nur, was mit ihrer Musik in mir passieren wird. Kann und will ich das noch hören? Und vor allem frage ich mich, ob der schiere Wahnsinn, den Daughters in ihrer Musik verkörpern, so nur entstehen konnte, weil ihr Frontmann wirklich ein irres Schwein war. Ein gruseliger Gedanke, weil ich die Songs immer genau für dieses Faktum so unglaublich gefeiert habe.

Daughters

Daughters

AdW-Moment des Jahres

Wir haben dieses Jahr unser fünfjähriges Jubiläum gefeiert, dabei unzählige tolle Specials verwirklicht und vor allem einen nostalgischen Podcast aufgenommen, bei dem ich immer noch Tränen lachen muss, wenn ich ihn heute höre. Aber am schönsten war es dann doch, nach so vielen Jahren die halbe Redaktion mal wieder für ein Wochenende in echt zu sehen. Wir verbrachten einen grandiosen Tag auf dem Pegasus Open Air, tranken viel zu viel Bier und pöbelten dem scheidenden Headliner hinterher, nachdem wir zuvor ihren Schnaps geklaut hatten. Einige der unzähligen Running Gags dieses Wochenendes hallen bis heute nach: zum Beispiel die gewichtige Frage, ob Pur oder Pink Floyd die bessere Band sind. Möglicherweise werden wir es 2022 herausfinden, wenn Pur auf Schalke spielen - einen fortbildenden Redaktionsausflug bekommen wir hoffentlich umgesetzt.