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Kettcar und „Gute Laune ungerecht verteilt“: Die Kraft der Poesie im Widerhall des Lebens

Dass es bei der Hamburger Band Kettcar nach dem musikalischen und lyrischen Hochgenuss von „Ich vs. Wir“ und der anschließenden EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“ überhaupt noch eine Steigerung geben könne, war fern jeglicher Erwartungshaltung. Aber mit ihrem neuen Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ gelingt es den Musikern erneut, mit frischem und weiterentwickeltem Sound und einer sprachlichen Differenziertheit zwischen gesellschaftlicher Relevanz und persönlicher Anteilnahme ein Meisterwerk zu schaffen. Das wirft die Frage auf, warum bislang eigentlich nur Bob Dylan einen Literaturnobelpreis bekommen hat.

Im Januar 2024 kündigten Kettcar mit dem Release ihrer Singleauskopplung „München“ ihr neues Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ an. Ein Song, der erzählerisch in der Tradition von „Der Tag wird kommen“ (Marcus Wiebusch – „Konfetti“) steht, und in einer Zeit veröffentlicht wurde, die zum einen geprägt ist von einer gesellschaftlichen Sensibilisierung für Unterdrückung, Alltagsrassismus, Gleichheit oder auch Gendergerechtigkeit, aber auch die Notwendigkeit verdeutlicht, wiedererstarkten rassistischen, nationalistischen und rechtspopulären Strömungen entgegenzutreten.

Die Albumankündigung, die durch weitere Auskopplungen („Doug & Florence“, „Auch für mich 6. Stunde“, „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“), begleitet wurde, ließ die Hoffnung aufkeimen, dass die Stimme einer Band, die so pointiert und sprachlich überraschend formuliert, der Gesellschaft Lieder schenkt, die sich solidarisieren, aber auch den Spiegel vorhalten muss.

Durch die kraftvollen Texte und ihre tiefen Intentionen gerät bei der Auseinandersetzung mit den Kettcar-Alben häufig eine verdiente, wertschätzende Auseinandersetzung mit der Instrumentierung zu kurz. Die Instrumente um Bassist Reimer Bustorff, Gitarrist Erik Langer, Keyboarder Lars Wiebusch und Schlagzeuger Christian Hake wirken wie gewohnt kraftvoll, harmonisch und ergänzen sich. Alle Musiker sind in ihren Skills gereift. Der dadurch kreierte Sound übernimmt die verantwortungsvolle Aufgabe die Lyrics zu tragen, damit ihre „Textgewalt“ nicht verloren geht. Dabei ist das Album in einer Art und Weise produziert, die den Livesound der neuen Songs erahnen lässt und auch beim Hören zu Hause seine ganze Wirkung entfaltet.

Ich guckte dich an und sagte: „Wir sind uns so ähnlich, wir sind uns so gleich“
Und du sagtest zu mir: „Ja, das sind wir - aber wir sind es nicht hier!“

Es würde den angemessenen Rahmen einer Rezension sprengen, die Texte in ihrer Tiefe zu analysieren oder mit Beispielen zu belegen. Aber wie Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff ihre Texte formulieren und dabei den Kampf ums alltägliche Überleben („Einkaufen in Zeiten des Krieges“), Cancel Culture („Kayne in Bayreuth“), Solidarität mit verkannten Berufsgruppen („Doug & Florence“), psychische Erkrankungen („Bringt mich zu eurem Anführer“) oder die Auseinandersetzung mit den eigenen Idealen („Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“) aufgreifen, ist nicht die schlichte Beschreibung von Zuständen, sondern eine „Sammlung von Zitaten“, die sich mal melancholisch, mal entsetzt, mal schmunzelnd präsentieren. Sie hinterlassen aber immer ein flaues Gefühl im Bauch, weil mensch in 45 Minuten das Hier und Jetzt wiederspiegelt bekommt und mit der Frage konfrontiert wird, ob es noch Hoffnung gibt. Auch wenn diese Hoffnung in den Texten nie offen zu Tage tritt, ist sie doch zwischen Zeilen latent vorhanden, da Kettcar nicht müde werden, uns auf gesellschaftliche Entwicklungen, sei es im Privaten wie im Öffentlichen, hinzuweisen. Wenn Kettcar beginnen, sich in Schweigen zu hüllen und Wiebusch und Bustorff keine Worte mehr finden, dann erst müssen Hoffnungen begraben werden. An diesem Punkt ist die Band noch nicht angekommen.

Bob Dylan hat im Jahr 2016 den Literaturnobelpreis bekommen, unter anderem für seine „poetischen Neuschöpfungen“ und „lyrischen Kompositionen von außerordentlicher Kraft“. Wer das Werk von Kettcar und die Lyrics des aktuellen und der vergangenen Alben liest und ihre Tiefe versteht, kommt nicht umhin auch hier eine lyrische Kraft und eine in Alltäglichkeiten verstrickte Poesie zu entdecken. Schließlich ist es eine Gabe, die Begründerin der modernen Krankenpflege Florence Nightingale und den aus der amerikanischen Sitcom „King Of Queens“ bekannten Paketfahrer Doug Heffernan in einem nachdenklichen Song über diese politisch vernachlässigten Berufsgruppen zu vereinen. Auch der Albumtitel „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist eine literarische Schöpfung, der es gelingt, den Hörenden einen positiv besetzten Begriff ins Gewissen zu treiben und eine Kettenreaktion an Interpretationen auszulösen. Bleibt zu hoffen, dass das Nobelpreis-Komitee auf Kettcar aufmerksam wird…

Diskografie
  • Du und wieviel von deinen Freunden (2002)
  • Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen (2005)
  • Sylt (2008)
  • Fliegende Bauten (Live, 2010)
  • Zwischen den Runden (2012)
  • Ich vs. Wir (2017)
  • Der süsse Duft der Widersprüchlichkeit (2019)
  • ...und das geht so (Live, 2019)

Fazit

9.3
Wertung

Kettcar beweisen mit ihrem neuen Album wieder einmal, dass sie zu den wortgewaltigsten Poeten des deutschsprachigen Indie-Rock gehören. Dabei konfrontieren sie die Hörenden mit gesellschaftlichen Beobachtungen, Innen- und Außensichten und einem Blick für die Nöte und Ungerechtigkeiten im Kleinen. Wäre dieses Album ein Mensch, ich würde ihn in den Arm nehmen, an mich drücken und sagen: „Danke, dass du da bist!“

Frank Diedrichs
8.6
Wertung

Brauchten die vorab veröffentlichten Singles jeweils etwas Anlaufzeit bei mir, schlugen diese und das Album im Gesamten dann wieder einmal umso mehr ein. Kettcar erzählen Geschichten, die mehr erreichen wollen als nur kurzweilig zu unterhalten. Also bitte nicht den Kopf ausschalten, genau hinhören und sich von dieser Band mit dem erreichen lassen, was Wiebusch und Co. auch nach so vielen Jahren unvergleichlich in Tonspuren verewigen können.

Mark Schneider