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Lingua Ignota und “Sinner Get Ready”: Rezidiv

Kristin Hayter alias Lingua Ignota begibt sich nach ihren beiden Erfolgsalben “All Bitches Die” und “Caligula” lyrisch wie auch musikalisch in die konservativ-fromme Ländlichkeit der USA. Wie ein entschleunigter Ausflug ins Grüne fühlt sich “Sinner Get Ready” deshalb allerdings nicht an.

Auf ihren ersten beiden Platten nutzte Lingua Ignota ihre klassische Musikausbildung zur Opernsängerin noch dazu, die Grenzen zwischen Gewalt und Grazie, zwischen Anmut und Unansehnlichkeit durcheinanderzuwerfen und neu auszutarieren. Die klassischen Melodien wurden immer wieder durchsetzt von Schmerzensschreien, das orchestrale Klangbett rutschte stetig ins noisige ab. Auf ihrem dritten Album schraubt Hayter die musikalische Roughness zwar deutlich herunter, dreht dafür aber die emotionale Intensität so weit nach oben, dass “Sinner Get Ready” den Vorgängern in Sachen blanker Auskehr von Schmerz in nichts nachsteht. Die grandiose Produktion und vor allem Hayters makellose Gesangsperformance sorgen zuverlässig für eine unbehagliche Mischung aus Gänsehaut, Klaustrophobie und Kloß im Hals.

“Sinner Get Ready” lässt sich zweifelsfrei im ländlichen Pennsylvania verorten, einer Region, in der die Interpretin selbst Teile ihres Lebens verbrachte. Statt Metal und Klassik gesellen sich hier die traditionellen Klänge aus Folk, Gospel und Bluegrass zum opernhaften Gesang und prägen den Sound der Platte. Die Aufnahmen bestehen zu einem Großteil aus Instrumenten aus der Appalachenregion (ein Mittelgebirge, das sich über weite Teile der nordamerikanischen Ostküste erstreckt), die immer wieder durch den klugen Einsatz von orchestralen oder elektronischen Klängen aufgerüttelt werden. Am offenbarsten zeigt sich der lokale Bezug aber in den Lyrics von “Sinner Get Ready”. Songtitel wie “Perpetual Flame Of Centralia” verorten die Musik klar in dem kleinen Bundesstaat im Nordosten der USA. Die “ewige Flamme” bezieht sich hier auf einen unterirdischen Kohlebrand, der die kleine Gemeinde Centralia in den 60er-Jahren praktisch unbewohnbar machte. Bis heute wüten die Flammen unter dem Ort und lassen gesundheitsschädliche Dämpfe durch die aufgerissenen Böden aufsteigen. Könnte es ein passenderes Thema für einen Lingua-Ignota-Song geben?

Mit dem Lokalbezug zu ihrem Herkunftsort geht, wie auch schon auf “Caligula” und “All Bitches Die”, eine lyrische Verarbeitung von Hayters Missbrauchserfahrungen einher. Die 35-Jährige war lange Zeit ihres Lebens Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt und trägt diese seelischen Wunden in ihrer Musik offen zur Schau. Als Metaphern für diese ungeschönten lyrischen Berichte nutzt Hayter oftmals religiöse Ästhetik, so zeigt sie sich beispielsweise im Musikvideo zu “Pennsylvania Furnace”, wie sie in schwarz-weißer Kleidung ihre Arme in einer stoßgebetartigen Geste Richtung Himmel richtet. Der Song handelt von der Legende eines Eisenmachers, dessen Hunde von den Toten zurückkehren und ihn in die Hölle zerren, nachdem er sie allesamt in einem Wutanfall in seinem Ofen verbrannt hatte.

Fazit

7.9
Wertung

“Sinner Get Ready” ist trotz musikalisch deutlich zurückgefahrener Härte ein emotional extrem hartes Album voller Schmerz, Bitterkeit, Angst und Zweifel. Lingua Ignota zementiert hiermit ihren Status als eine der spannendsten Avantgarde-Musiker:innen unserer Zeit.

Kai Weingärtner
7.9
Wertung

„Sinner Get Ready“ bewegt sich musikalisch zwischen Kirche, Konzertsaal und Hillbilly-Hütte. Kristin Hayter alias Lingua Ignota fordert das Publikum sowohl klanglich als auch inhaltlich, aber belohnt aufmerksames Zuhören mit einem ganz eigenen, interessanten Entwurf von Folk-Musik.

Steffen Schindler