Der großartige Titel „1987“ greift zunächst das erzeugte Gefühl der Ohnmacht auf, um kurz darauf einen unverschämt leichtfüßigen Swing-Bass erklingen zu lassen, der wiederum genauso schnell von einem wuchtigen Beat, pulsierenden Herzschlägen und Vocoder-Fetzen abgelöst wird. Das bizarre Arrangement changiert zwischen verschiedenen Stimmungen, Motiven und Klängen, die das beschworene Mantra antreiben und so ein fantastisch düsteres Gesamtwerk formen.
Auch „Nebenstraßen“ zeugt von solchen rhythmischen und melodischen Umbrüchen. Aufgewiegelte Gitarren-Riffs und ein sich überschlagender Sprechgesang steigern sich in taumelnde Höhen bis zum plötzlichen Innehalten. Einfache, sich wiederholende Melodien und Textzeilen dienen als Beschwörungsformel und unterstützen den wohldurchdachten Aufbau von gewaltigen Soundwänden und ihre notwendig folgende Dekonstruktion. Was wild, ungezähmt und undurchsichtig erscheint, beruht in Wirklichkeit auf minutiöser Feinarbeit.
Besonders nach mehrmaligem Hörgenuss eröffnet sich einem die herausragende Komplexität, die allzu oft durch Reduzierung und Wiederholung kreiert wird. Karies haben eine Menge Denkarbeit geleistet und auf bemerkenswerte Weise Gegensätze miteinander vereint, die sich beim Hören nicht mal mehr als solche anfühlen. Wuchtig und leicht, düster und grell, treibend und lethargisch, leise und laut, bedrückend und befreiend spielen sie Post-Punk mit einem hohen Beat-Anteil, zahlreichen NDW-Anleihen und vereinzelten Dream-Pop-Ausflüchten. Geisterhafte Chöre, verträumte Melodien, wildes Geschepper, rastlose Kopf-Stimmen, Handclaps, elektronische Klang-Fetzen, filigrane Gitarren, pulsierende Drums und ein dumpfes Grollen vermengen sich zu einem wunderbar homogenen Sound-Ungetüm, das dich beim Hören vollkommen umgibt und unbemerkt am Nervenkostüm nagt - Karies eben.