Kolumne

Und jetzt, Rockmusik? Ein pessimistischerer Rückblick auf die Zukunft

Vor dreieinhalb Jahren wagte der Autor dieses Artikels eine Zukunftsprognose über die Entwicklung der Rockmusik. Was ist im Jahr 2021 davon übrig? Eine resignierte Spurensuche.
Die Silhouette eines Musikers mit Gitarre, vor ihm steht ein Mikrofonständer, das Bild ist dunkel gehalten.

Werde ich mit meinen 24 Jahren langsam Alterspessimist? Als ich im Jahr 2018 eine Vorhersage der weiteren Entwicklung der kommerziell absteigenden Rockmusik traf, zeigte ich mich hoffnungsvoll. Damals hatte Hip-Hop erstmals den Rock als meistgehörtes Genre in den USA überholt. Was Beobachter:innen des Markts schon lange gewusst hatten, hatte plötzlich eine zahlenmäßig deutlichste Gewissheit: Die Ära der großen Gitarrenheroen steuert auf ihr Ende zu. Was bedeutete das für jemanden, der mit den wahnwitzigen Tracks eines Kendrick Lamars oder eines Kanye Wests nichts anfangen kann? Wo wird sich Rockmusik hinbewegen, wenn scheinbar alle massenkompatiblen Spielarten des Genres nach Jahrzehnten ihren Zenit erreicht haben? Mein Blick war damals ein äußerst optimistischer. Ich verglich die Geschichte des Rocks mit derjenigen des Jazz‘ – eine Musikrichtung, die ebenfalls einst den Mainstream-Sound geliefert hatte und erst mit ihrem kommerziellen Niedergang zu dem avantgardistisch-akademischen Spielplatz wurde, die sie heute ist. Ich glaubte, das könnte dem Rock auch blühen. Eine Musik für Liebhaber, die nach Innovation und Neuschöpfung giert – etwas Besseres könnte ich mir für mein Lieblingsgenre eigentlich kaum vorstellen.

Dreieinhalb Jahre später fühle ich mich desillusioniert. Der Moment, in dem alle meine Antizipationen in die Anhängerschaft von Rockmusik zusammenfielen, trug den Namen „Post Human: Survival Horror“. Als Bring Me The Horizon Ende letzten Jahres aus dem Lockdown und offensichtlich stark durch die Pandemie beeinflusst ihre neueste EP veröffentlichten, hätte dass der Raum für die wahnsinnigsten Experimente sein können, die man dieser Band mehr als zutrauen darf. Wir reden hier von einer Gruppe, die sich über die Jahre ihrer Entwicklung konsequent vom stumpfen Deathcore ihrer Anfangstage weiterentwickelt und immer wieder neues gewagt hatte. Eine Band, die 2013 im Prinzip den ganzen Metalcore begraben hatte, weil sie mit „Sempiternal“ schlicht das wohl beste jemals erschienene Album dieses Genres gefertigt hatten und danach – das kann man in die Folgediskographie interpretieren – wohl selbst wussten, dass es hier nicht mehr weitergehen konnte. Bring Me The Horizon agierten teilweise so unkonventionell, dass sie 2019 aus dem Nichts eine komplett unzugängliche Remix-Platte veröffentlichen konnten. Und nicht zuletzt reden wir von einer Band, die mit ihrem sechsten Studioalbum „Amo“ so viel stilistische Vielfalt und Innovationswillen wie noch nie präsentierte. Ja, auch ich begegnete der Platte damals wie heute mit eher gemischten Gefühlen, wenngleich ich die unzweifelhaften Highlights mehr als zu würdigen weiß. Aber so funktionieren Experimente eben: Sie können nicht immer gefallen, sie provozieren, sie müssen sich fast immer auch Gegenwehr stellen.

Was also ist „Post Human: Survival Horror“? Immerhin eine EP, die in einer Zeit entsteht, in der Taylor Swift plötzlich eine Artpop-Platte mit Aaron Dessner aufnimmt. Bring Me The Horizons großer Wurf ist stattdessen ein in der Diskographie der Band völlig ungekannter Konservatismus. Eine der seit Jahren spannendsten und gleichzeitig kommerziell erfolgreichsten Bands aus UK macht mit einem Mal maximal vorhersehbaren und effekthaschenden Nu-Metal-Quatsch. Das allein wäre gerade im Angesicht der Entstehungsumstände des Werks noch halb so schlimm: „Post Human: Survival Horror“ ist wohl als relativ kurzfristiges Projekt entstanden, ist in der andauernden Konzertabstinenz vielleicht sogar als Spaßplatte zu verstehen. Man kann ja auch kaum abstreiten, dass ein Song wie „Teardrops“ mit seinem effekthaschenden Refrain oder der epische Roboterkampf im Video zu „Obey“ nicht eine packend-spaßige Popcorn-Schlacht sind. Schlimm ist aber, dass fast alle Fans dieses Rock-Fast-Foods als scheinbaren Heilsbringer im Bring-Me-The-Horizon-Universum feiern. Ein „Amo“ lehnt man also wegen billigem Songwriting ab und meint damit eigentlich, dass die Gitarren einmal zu oft abwesend waren. Aber diese EP darf sich mit noch schematischerem Quatsch abgeben, nur weil darauf mal wieder eine Rockbandbesetzung zu hören ist? Vielleicht sind Rockfans gar nicht die musikliebhabenden Enthusiasten, für die ich sie vor dreieinhalb Jahren noch gehalten habe. Vielleicht sind sie gerade die größten Konservativen, die ihre Musik nur aus Identitätsgründen und Nostalgie konsumieren und die von der virulenten Hip-Hop-Szene, die in den letzten Jahren einen geistreichen Streich nach dem nächsten hervorgebracht hat, längst überholt worden sind.

Vielleicht hätte man die Zeichen auch schon viel länger sehen können. Rock am Rings unfassbar einfallsloses Line-up hatte ich immer als Ergebnis der unfähigen Veranstalter:innen wahrgenommen. Aber vielleicht ist diese Erklärung auch viel zu einfach, denn scheinbar will die ganze Horde dort ja auch gar nichts anderes sehen. Um das zu verstehen, reicht ein Blick in die Facebook-Kommentare: Da muss sich ein Festival mit Muse, Volbeat und Green Day als Headliner ernsthaft den kindischen Vorwurf gefallen lassen, besser zum Namen „Pop am Ring“ zu passen, weil da irgendwo im Billing auch noch Alligatoah auftaucht. Apropos Green Day: Die haben im letzten Jahr mit dem mehr als peinlich betitelten „Father Of All Motherfuckers“ das wohl größte Boomer-Album aller Zeiten veröffentlicht. Die noch peinlichere Musik wurde lediglich durch eine Plakatkampagne in den USA getoppt, auf der die PR-Agentur der Band scheinbar genau wusste, was die Zielgruppe will: „No Features. No Swedish Songwriters. No Trap Beats. 100 % Pure Uncut Rock.“ No Bock auf was Spannendes offenbar auch. Und die neueste große Rockband der Stunde ist ernsthaft Greta Van Fleet. Es ist ja in Ordnung, die gut zu finden, aber wenn das das Aushängeschild von neuer Rockmusik im Jahr 2021 ist, dann gute Nacht. Sich darum zu streiten, wie sehr man eigentlich wie Led Zeppelin klingen darf, ist nicht gerade eine gute Grundlage für den führenden Innovationsstrom des 21. Jahrhunderts.

Hoffnung macht eigentlich nur ein Blick ins Vereinigte Königreich. Dort blüht gerade eine Post-Punk-Szene von beeindruckender Schlagkraft auf, deren Spitzenreiter nicht nur große Aufmerksamkeit generieren, sondern auch verdammt geniale Musik machen. Black Midi und Idles sind die großen Namen der letzten Jahre, denen besonders 2021 eine ganze Heerschar an Folgeacts mit ihrerseits spannenden Konzepten hinterherlief – darunter das geniale Debüt von Black Country, New Road. Post-Punk scheint auch in Deutschland gerade noch der letzte Motor einer immer noch spannenden Bewegung zu sein. Die Nerven arbeiten aktuell daran, sich für immer in den deutschen Pop-Kanon zu zementieren. Das hat nicht nur fantastischen Bands wie Karies zu Leben verholfen, sondern sorgt augenblicklich sogar dafür, dass sich das Wave-Genre wieder in massentauglicheren Acts findet – das Debüt von Drangsal, die jüngst erschienene neue EP von Fibel oder der Songwriter Betterov sind dafür gute Zeugnisse. Es sind Entwicklungen wie diese, die Prognosen wie die aus meinem Artikel von vor dreieinhalb Jahren doch noch irgendwie wahrscheinlich erscheinen lassen. Zunächst muss sich die Welt der Rockmusik allerdings davon lösen, ein Feuer mit längst verglühten Kohlen entfachen zu wollen – denn die haben erfahrungsgemäß wenig Dauerhaftigkeit. Ironischerweise habe ich in 2021 übrigens so viel Jazz wie noch nie gehört.