Kolumne

Jahresrückblick 2023: Kai

Selten stand ich einem Jahr so ambivalent gegenüber wie 2023, musikalisch wie persönlich. Zum Glück muss ich nur über ersteres in diesem Artikel schreiben, sonst würden mir da wirklich die Worte fehlen.

Es ist super viel passiert, unter anderem mein erstes (Lohn-)Arbeitsverhältnis, wahnsinnig schöne Reisen und die Möglichkeit, bei Album der Woche hinter den Kulissen ein bisschen mehr Verantwortung zu übernehmen. All das ging und geht zwar mit einigem an Stress einher, insgesamt ist es aber doch schön, wenn Dinge sich verändern. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, ob der gesellschaftlichen und politischen Lage langsam aber sicher wahnsinnig zu werden. Grundlose Wut und teils völlige Resignation schleichen sich gerade öfter als mir lieb ist in meinen Kopf. Umso schöner, dass es auch 2023 viel Musik zum Ablenken gab.

Album des Jahres

Bis ich nachgeschaut habe, was dieses Jahr alles so rausgekommen ist, dachte ich noch, es wäre ein eher schwaches Releasejahr gewesen. Naja, so kann man sich täuschen. Schon im Januar ging’s los mit famos rotzigem Punkrock von Pascow, kurze Zeit später gefolgt vom hervorragenden neuen Album “Wanderer” von The Intersphere. Ich habe lange nicht mehr laut aufgejauchzt, als ich ein Muster in meinem Postfach gefunden habe, aber bei Enter Shikaris neuer Platte “A Kiss For The Whole World” war das der Fall. Kapa Tult haben mit ihrem grandiosen Debüt mein kaltes Indieherz zum Schmelzen gebracht, Karies und Tristesse haben das Gefühl der Melancholie so schön vertont wie lang nicht mehr. Gerade in der zweiten Jahreshälfte hielt die Wut Einzug in meine Welt, und es gab zwei Platten, die dieses Gefühl besser als alle anderen verbalisieren konnten. Empire State Bastard haben ein in jeglicher Hinsicht krasses Album namens “Rivers Of Heresy” releast und Kora Winters “Gott segne, Gott bewahre” wäre wirklich um ein Haar mein liebstes Album 2023 gewesen.

Wenn ich das hier so geschrieben lese, fällt mir auf, dass Gitarrenmusik in diesem Jahr scheinbar wieder sehr viel präsenter in meinen Ohren war als noch 2022. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist es ein Album aus einem ganz anderen Genre, das mich wie kein anderes berührt hat. Das finnische Post-Jazz Trio VIRTA hat im Oktober ENDLICH den Nachfolger ihres unfassbaren Albums “Hurmos” rausgebracht. Es heißt “Horros” und ist wirklich, wirklich groß. ar. tig. Diese Band versteht es wie keine andere, mich in einen Teppich aus Sound zu werfen, der mich einfach komplett aus meinem Alltag rausholt. “Horros” ist ein Album, in das man sich reinlegen möchte, am besten im Dunkeln und auf einer Luftmatratze im Ozean treibend.

Neuentdeckung des Jahres

Diese Wahl ist wirklich fast schon peinlich. Ständig quassel ich hier was von irgendwelchen Post-Punk-Platten und wie geil dieses Genre ist, und jetzt ist meine liebste Neuentdeckung eine Band (und vor allem auch ihr Frontmann), die dieses Genre in Deutschland schon seit Jahren mitprägt. Als Steffen im April seine Rezension zu Hendrik Otrembas Solo-Album “Riskantes Manöver” schrieb, kam ich für das gruselige Cover und blieb für den gesamten Rest. Von dort aus habe ich mich einmal quer durch die Diskografie der absolut grandiosen Band Messer gehört. Falls das an euch (wie an mir auch) bisher vorbeigegangen sein sollte, holt es unbedingt nach! Sowohl Messer als auch Hendrik Otremba stehen auf meiner Konzertliste für 2024 ganz weit oben.

Konzert des Jahres

Ich habe das Gefühl, 2023 war das erste Jahr, das sich konzertkonsumtechnisch wieder fast auf prä-pandemischem Niveau bewegt hat. Ich kann mit Dave’s 60 (wie, Dave, wie?!) zwar um Längen nicht mithalten, aber ich habe trotzdem sehr viele und sehr schöne Live-Erlebnisse gehabt. Die Nerven haben mich trotz nervigem Publikum komplett sprachlos zurückgelassen, ich habe meine Post-Punk-Lieblinge Lyschko auf einem Boot anhören dürfen, Enter Shikari und Casper haben es geschafft, die scheinbar Jahr für Jahr schlechter werdende Orga des Hurricane Festival vergessen zu machen, und bei OG Keemo’s “Die Tage vor dem Fieber” Tour habe ich mir mehr als eine Prellung zugezogen. Ein herausragend schöner Konzertmoment war auch eine der Release-Shows von Kora Winter in einem winzigen Kellergewölbe in Frankfurt, das durch die Anwesenheit von Jakob noch zu einem viel schöneren Abend gemacht wurde als sowieso schon. Und dann war da ja auch noch diese Empire State Bastard Show in Hamburg, die wohl zum heftigsten gehört, was ich meinen Ohren krachmäßig je zugemutet habe.

Aber auch hier kann keines dieser wunderbaren Erlebnisse mithalten mit VIRTA. Alles an diesem Abend war absurd. Mit meinen zwei besten Freunden bin ich an diesem Nachmittag in ein Auto gestiegen, um in ein 13.000-Seelen-Dorf namens Sendenhorst zu fahren. Dort spielten um 17 Uhr (!) VIRTA ein Konzert im Rahmen des Münsterland-Festivals. Mit Betreten des Raumes senken wir den Altersdurchschnitt um geschätzte 35 Jahre und steigern die Quote der Menschen, die die Band auch tatsächlich kannten, um mindestens 300%. VIRTA spielen in zwei ungefähr 40-minütigen Sets alles, was wir hören wollten, und dementsprechend setzten wir dem vornehmen Klatschen der 45 anderen Gäste lautstarkes Jubeln und Jauchzen entgegen. Während sich die nordrhein-westfälische Bildungsministerin in der Reihe hinter uns beim Song “On The Run” die Ohren zu hielt, schwelgten wir in glückseliger Gemeinschaftsextase. Der Abend wurde gekrönt, als mich nach dem Konzert der Endsechziger am Urinal neben mir fragte: “Und ihr wart jetzt die Fan-Kurve, oder wat?”

AdW-Moment des Jahres

Es war wirklich eine turbulente Zeit bei Album der Woche. Viele von uns haben in diesem Jahr große Entwicklungen im privaten und beruflichen Leben durchgemacht, wir haben sehr viel reflektiert und überlegt, wie und ob es mit diesem Fanzine weitergehen wird. An dieser Stelle den größten überhaupt möglichen Dank an Lucio. Du bist ein so herzensguter Mensch, du hältst diesen Laden zeitweise eigenhändig zusammen und bist dabei so gelassen, verständnisvoll und geduldig, dass ich mir immer wieder versuche, an dir ein Vorbild zu nehmen. Ich hoffe du hältst es auch 2024 noch mit uns aus und wir können dieses Magazin weiter und neu gestalten! Leider hat es sich in diesem Jahr nicht so häufig ergeben, dass ich andere Redaktionsmitglieder außerhalb der wöchentlichen Meetings und des ein oder anderen Spieleabends face to face treffen durfte. Dafür gab es ein umso schöneres Konzert mit Jakob in Frankfurt und einen noch viel schöneren Besuch in seiner Marburger WG. Für 2024 wünsche ich mir viel mehr davon!