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Kora Winter und “Gott Segne, Gott Bewahre”: Die Bleiche des Alltäglichen

Wer schon mal länger als 20 Minuten durch dieses Magazin geschmökert hat, sah sich längst mit der tsunamihaften Wucht vertraut, mit der Kora Winters Debüt “BITTER” in diese Redaktion eingeschlagen ist. Knappe vier Jahre später legt die Berliner Band nach. Mit geflätschten Zähnen, Anlauf und geballter Faust.

Ein zweites Album einer Band oder einer Künstlerin muss sich, so will es das Gesetz des Musikjournalismus (*Anm. d. Red.: Da muss ich mir an dieser Stelle wohl auch selbst den Hut aufsetzen), mit dem Debütalbum messen. Eigentlich eine absurde Erwartungshaltung. An dieser Stelle sei nur ein kurzer Exkurs in diesen ausgetretenen Dialog erlaubt, einfach weil es so ein passendes Bild ist. Hört man nämlich beide Alben von Kora Winter, kann man doch recht schnell erkennen: All die Wut, der Schmerz, die innere Zerrissenheit, in denen sich Frontmann Hakan Halaç auf “BITTER” versenkt, kehren sich nun in einer Eruption nach außen. Selbstzerstörung wird zur Anklage.

Nun aber von vorn: “Gott Segne, Gott Bewahre” beginnt mit der ominösen Aufnahme, in der offenbar jemand Tarot-Karten gelegt bekommt. Ob dieser schwerwiegenden Aufgabe braucht dieser jemand erstmal “15 seconds to think”. Was dann folgt, ist ungefähr so, als hätte die Hörer:in Kora Winter gefragt: “Ok, kann ich kurz Luft holen?” Worauf die Band verständnisvoll “ja klar” erwidert, nur damit einem im nächsten Moment der silber-grinsende Teufel vom Albumcover die Luft aus dem Hals presst. Auf den abzüglich der Interludes neun Tracks des Albums wüten sich Kora Winter durch erwartungsgemäß komplexe Riff-Intermezzos, die mit jedem Anschlag einen neuen Nervenknoten treffen. Merklich ist hier, dass sich die Gitarristen Yuki Bartels und Ferhan Sayili an vielen Stellen etwas zurücknehmen, die brachiale Direktheit der vertrackten Ideenfülle vorziehen. Das steht “Gott Segne, Gott Bewahre” insgesamt sehr gut zu Gesicht, auch weil dadurch mehr Platz für andere, nicht unbedingt gitarrenfokussierte, Ideen frei wird. Verkühlte Synthesizer, epochale Chöre und auch das ein oder andere Sample komplettieren das emotionale Spektrum der Platte und verhelfen der Band so zu bisher unerreichtem Facettenreichtum.

Kora Winter waren schon immer großartig darin, Komplexität und emotionale Leitfähigkeit verlustfrei zu verbinden. Auf “Gott Segne, Gott Bewahre” gelingt das der Band besser denn je. Maßgeblich dafür ist das grandiose Gespür dafür, systemische Probleme in alltäglichen Situationen zu finden, zu verarbeiten und sie textlich erlebbar zu machen. Hakan Halaç gelingt es in seinen Texten meisterhaft, die Dissonanzen in der eigenen Psyche, die Verhandlung von Selbst- und Fremdwahrnehmung zu vermitteln. Er braucht dafür weder plumpe Punk-Parolen noch überkandidelte Schachtelsatzbauwerke, stattdessen gibt es bis ins zynische verdrehte Alltagsfloskeln und bittersüße Seitenhiebe an die Altbau-Selfcare Bubble: Es könnte auch alles anders sein, | Mir geht es besser jetzt, ich bin ein neuer Mensch. | Ich imitiere das Leben so, wie es mich imitiert, | Aber niemand ist hier. Awareness für mentale Gesundheit, Empörung über festgefahrene Zustände; so weit, so etabliert. Alles Themen, über die sich viele Protagonist:innen des Genres schonmal musikalisch Gedanken gemacht haben.

Wo Kora Winter aber der ganz ganz große Wurf gelingt, ist in der Darstellung einer (post-)migrantischen Lebenswelt in Deutschland. Ungleiche Chancen und Misstrauen im Angesicht von Autoritäten, die den Bias gegenüber Menschen, die nicht nach achte Generation Müller-Meyer-Schmidt aussehen, in der Vergangenheit mehr als einmal unter Beweis gestellt haben. Dieser Argwohn spiegelt sich in vielen Zeilen des Albums wieder und Halaç findet dafür so klare Worte wie selten in der deutschsprachigen Gitarrenmusiksphäre. Am Ende dieser musikalischen Selbstreflexion türmt sich die vorläufige Erkenntnis im Song “Alle gegen Alle” auf: Ich schulde keinem eine Antwort. | Ich schulde keinem eine Identität. Wenn das nicht Selbstermächtigung ist.

Kora Winter wären aber ja nicht Kora Winter, wenn sie einem nicht mit dem letzten Song nochmal den gerade so wiedererrungenen Atem aus der Lunge drücken würden. “Schuld” ist der siebenminütige Closer von “Gott Segne, Gott Bewahre” und in mehrerlei Hinsicht das Pendant zu “Coriolis” auf “Bitter”. Auch hier tritt Bassist Karsten Köberich prominent vor das Mikro und wiegt die Hörenden mit sanfter Stimme in Richtung Erkenntnis, vielleicht sogar in Richtung Aufgabe. Wem der Satz “so tief wie deine Schuld” bereits auf dem ersten Album die Haare zu Berge hat stehen lassen, wird sich diesem Effekt auch hier nicht erwehren können. Nur endet “Gott Segne, Gott Bewahre” eben nach diesem Epos und lässt sein Publikum mit diesem Gefühlschaos allein. 2019 schrieb Jakob zum Ende seiner “Bitter”-Review: Am Ende dieses unsteten Trips steht man genau wie Frontmann Halaç vor der Frage, an was man eigentlich noch glauben soll. Eine Antwort liefern uns Kora Winter auch hier nicht. Schlauer sind wir trotzdem.

Fazit

9
Wertung

Deutcher Metal bleibt spannend, und daran sind Kora Winter ganz maßgeblich Schuld. "Gott Segne, Gott Bewahre" findet eine neue musikalische Klarheit für die Band und hittet dabei emotional genauso sehr wie die bisherigen Veröffentlichungen. Man kann nur hoffen, dass die Themen und Perspektiven, die die Berliner auf dieser Platte beschäftigen, auch über die Band hinaus im Genre ein Zuhause finden.

Kai Weingärtner