Reviews

Karies und “Tagträume an der Schaummaschine I”: Schleiertanz

“Alice” wird redaktionsintern seit seiner Veröffentlichung 2018 als “bestes deutsches Post-Punk-Album der letzten 10 Jahre” gehandelt. Fünf Jahre später ist das Quartett nicht nur personell in neuem Gewand unterwegs und kann doch noch genauso begeistern.

Es ist doch immer wieder verblüffend, wie in einem Land, in dem 80 Millionen (“ohoh ehop!”) Menschen leben, ein komplettes Genre Musik aus gefühlt einer Handvoll Leuten besteht, die allem ihren kreativen Stempel aufdrücken. Übel nehmen kann man das Karies und ihren Klangkumpan:innen kaum, erweisen sich die Veröffentlichungen des deutschen Post-Punk doch immer wieder als das kreativste und frischeste, was dieser Fleck Erde musikalisch so zu bieten hat. Auch bei Karies’ neuestem Album, das im Vergleich zum schlicht betitelten Vorgänger den fast schon dadaistischen Titel “Tagträume an der Schaummaschine I” trägt, ist der bereits erwähnte kreative Stempel unverkennbar. Zwar entstand das vierte Album der Band weder mit Kevin Kuhn am Schlagzeug noch mit Max Rieger als Produzent, die beiden Nerven werden allerdings durch ein anderes genreverwandtes Hochkarat ersetzt.

Paul Schwarz, der unter anderem schon mit Edwin Rosen zusammengearbeitet hat, bedient auf “Tagträume an der Schaummaschine I” sowohl die Sticks als auch die Regler des Mischpults und übernimmt so gleich beide freigewordenen Aufgaben. Sein Einfluss zeigt sich deutlich im vermehrten Einsatz elektronischer Elemente, die dem ohnehin schon sehr verträumten Album noch ein bisschen mehr Verklärung beisteuern. Wo sich der prominente Einsatz von Synthesizern auf “Alice” noch größtenteils auf Stranger-Things-mäßig wabernde Flächen beschränkte, bedient sich diese Platte sehr viel häufiger aus der elektronischen Spielkiste. E-Drums und verwendenden Effekte auf sämtlichen Instrumenten (inklusive dem Gesang) erwecken den Eindruck, man höre die Songs mit dem Kopf in der titelgebend Schaummaschine.

Diese Entscheidungen auf Ebene der Produktion unterstützen den sowieso schon verkühlten Gesamtsound der Platte wunderbar, bilden in Kombination mit den hypnotischen Bassläufen und den gewohnt frei assoziierenden Lyrics ein über seine ganze Laufzeit fesselndes Klangerlebnis. Zur verträumten, außerirdischen Stimmung des Albums tragen auch die zwischen deutsch, englisch, spanisch und italienisch wechselnden Gesangspassagen bei. Apathisch, fiebrig und nörgelnd arbeitet sich “Tagträume an der Schaummaschine I” an die nervliche Substanz seiner Hörer:innen. Zurück bleibt am Ende ein Gefühl der Verwirrung, des aus dem Schlaf gerissen werden und der vage Eindruck, gerade etwas ganz besonderes erlebt zu haben, was man aber kognitiv noch nicht ganz einordnen kann.

Fazit

8.1
Wertung

“Tagträume an der Schaummaschine I” kommt zwar weniger frenetisch daher als “Alice”, entfaltet dafür aber ein wahnsinnig vereinahmendes Potenzial. Ob dieses Album Karies’ definitives “Coming of Age” markiert, bleibt abzuwarten. Eine spannende Entwicklung macht die Band hier in jedem Fall durch.

Kai Weingärtner
8.4
Wertung

Auf „Tagträume an der Schaummaschine I“ hört man dem schon immer außergewöhnlichen Post-Punk von Karies beim Erwachsenwerden zu. Scheinbar komplett ungebunden von Genre-Klischees taucht die Band hier mehr als nur den kleinen Zeh in krautig-experimentelle Wasser.

Steffen Schindler