Buttress betet in verzweifelter Suche nach Halt zu einem „Lord“, Kristin Hayters Gottvertrauen ist scheinbar nur eine Fassade und Kora Winter haben gleich ein ganzes Album gemacht, in dem es um das Festklammern an Esoterik und Übernatürlichem geht. Wahrscheinlich passt es, dass ich mich ausgerechnet in diesem Jahr das erste Mal aus Interesse in einen katholischen Gottesdienst gesetzt habe und von der dortigen Ästhetik völlig weggehauen war. Dass hier also eines meiner Lebensthemen in 2023 zu liegen scheint, machte „Gott segne, Gott bewahre“, den Zweitling einer meiner absoluten Lieblingsbands, trotzdem nicht weniger herausfordernd. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Vorgänger „Bitter“ für mich eine der besten und prägendsten Platten aller Zeiten ist und möglicherweise für immer die einzige 10/10 bleiben wird, die ich je bei Album der Woche vergeben habe. Dass man da utopische Erwartungshaltungen kaum abschalten kann, erklärt sich von selbst. „Gott segne, Gott bewahre“ hat mich in diesem Jahr vor allem deswegen tief beeindruckt, weil es diesen Druck wirklich mit vollem Bewusstsein torpediert. Kora Winter klingen auf ihrer neuen Platte so unheimlich harsch und direkt, tauschen epochal-planvolle Dramaturgien und Song-Aufbauten wie noch in „Coriolis“ teilweise gegen völlig ungestüm reinpreschende Brecher wie „Der missratene Sohn“, die auch spiegeln, dass Kora Winter mittlerweile mehr kämpfen wollen, anstatt bekämpft zu werden. Das hat in einem Jahr, in dem ich immer verzweifelter über die Konfrontationslust einer Welt werde, in der ich doch einfach nur gerne in Frieden, Solidarität und Aufopferung leben würde, definitiv einen Nerv getroffen. Damit klarzukommen fällt mir aber unheimlich schwer. Während „Bitter“ mich irgendwie in seiner Verzweiflung noch auffangen konnte, fühlt sich „Gott segne, Gott bewahre“ wie ein regelrechter Gewaltakt an und wird vielleicht zu der Art von Platte werden, die ich wie Oathbreakers „Rheia“ wahnsinnig wertschätze, bei der ich aber auch jedes Mal tief durchatmen muss, bevor ich sie auflege. Umso beeindruckender ist dann aber wieder, dass ich trotz dieser düsteren Wolke, die für mich über „Gott segne, Gott bewahre“ liegt, immer noch so viele Songs dieser Platte einfach nur geil finden kann. Mein erster Liebling war lange Zeit das unfassbare „Alle gegen alle“, das die Kampfesnotwendigkeit der Platte wohl so gut widerspiegelt wie kein zweiter Song und mit seinem grandios aufgebauten Finalpart vielleicht zu den dramaturgisch genialsten Dingen zählt, die Kora Winter je vollbracht haben. „Marmelade“ mit Johannes von Kind Kaputt ist wahrscheinlich mein Hit des Jahres – diese Art von Konnotation hatte ich dieser Band ehrlich gesagt nie zugetraut. „Neuer Tag im Rattenloch“ beginnt mit einem kurzen Moment des Innehaltens und wirklich aufwühlenden Fragen. „Sag, wo ist die Liebe hin? Wo ist die gottverdammte Leidenschaft? Für wen geb‘ ich mich auf?“ Dass all das direkt danach wieder klanglich zerschmettert wird, haut mich jedes Mal aufs Neue von den Sitzen. Und dann ist da noch „BBDDSSMM“, der wahrscheinlich unglaublichste Song dieser Platte. Neben seinem bombastischen Instrumental und den fantastischsten Textzeilen, die ich je über sexualisierte Hierarchien gehört habe („Befrei mich, wenn du mir die Freiheit raubst“; „Ich seh‘ den Mensch vor lauter Körper nicht“, „Meine Haut gehört dem Herren“), zeigt dieser Track vor allem, wie weit Frontmann Hakan Halaç mittlerweile als Sänger gekommen ist. Liebe 10.000 andere Metal-Schreihälse, die es da draußen gibt: SO klingt echte Angriffslust – und zwar gerade, weil sie kein gutturales Scream-Dauerfeuer ist.