Kolumne

Jakobs Jahresrückblick 2020

Ein merkwürdiges und enorm belastendes Jahr geht zu Ende. Neben all den persönlichen und globalen Katastrophen, deren Teil ich 2020 war, ist es aber vielleicht gerade deswegen bedeutend, auch auf die schönste Sache der Welt zurückzublicken: Musik.

Mit Sicherheit haben neben mir auch noch ganz viele andere Menschen 2020 als eines der schlimmsten Jahre überhaupt in Erinnerung. Neben einer globalen Pandemie, Umweltkatastrophen und gesellschaftlich-politischen Dramen, die unser aller Leben in diesem Jahr geprägt haben, musste ich mich 2020 darüber hinaus noch mit einer Menge persönlichen Krisen auseinandersetzen. Wahrhaftig eine herausfordernde Zeit, in der Musik ein ganz wichtiger Anker war. Interessanterweise habe ich mich in diesem Jahr aber weniger mit Neuerscheinungen und eher wieder intensiver mit altem Material befasst - vielleicht braucht man in Zeiten der Unsicherheit manchmal einfach solche Felsen der Vertrautheit. In diesem Sinne kann ich auch nicht an 2020 denken, ohne all die vielen schönen und herzerwärmenden Momente in Erinnerung zu behalten, von denen es zweifelsohne auch zahlreiche gab. Ich empfinde es als großes Privileg, trotz Social Distancing nie allein sein zu müssen - Freunde, Familie und Musik sei Dank.

Album des Jahres

In den letzten Jahren konnte ich diesen Titel fast immer mit absoluter Sicherheit vergeben, da sich stets eine Platte als übermäßig herausragend erwiesen hatte. Für mich ist es 2020 deswegen ein Novum, dass sich zwei Platten erbittert um diesen Platz gestritten haben. Ganz ehrlich: Tagesformabhängig bin ich mir der Pole Position noch immer nicht gewiss, aber Tom Misch & Yussef Dayes haben sich schlussendlich doch als die nachhaltigste Nominierung erwiesen. "What Kinda Music" ist ein absolutes Meisterwerk modernen Jazz' und eine wahrhaftig denkwürdige Kollaboration von zwei der aufregendsten jungen Sterne der britischen Szene. Mischs Album-Debüt "Geography" von vor zwei Jahren bestach mit einem derartig charmanten Pop-Appeal, dass es sich problemlos auch der großen Masse öffnen konnte, ohne anbiedernd zu sein. Gleichzeitig gingen die teils irrwitzig genialen Jams seiner frühen Mixtapes und EPs darauf etwas verloren. "What Kinda Music" wiederum arbeitet Mischs angenehm leichtfüßige Melodien so genial in eine staubige und verquere Gesamtästhetik ein, dass man jede einzelne Note einfach feiern muss. Dazu trägt nicht nur Dayes' irre tightes und kreatives Drumming bei, sondern auch die vielen pointierten Soundentscheidungen, die diesem Album einen so einzigartigen Klang verleihen. Man höre nur auf das gänsehautverursachende Bläserintro von "Festival", dessen Identität hinter vielen genialen Effekten brillant verschleiert wird. Auch der schnarrende Grundduktus von "Sensational" begeistert mich jedes Mal wieder aufs Neue und ich frage mich, wie zur Hölle wir es bei Album der Woche eigentlich geschafft haben, dieses außergewöhnliche Stück Musik im April zu verpassen.

Neuentdeckung des Jahres

Auf die Entdeckung von Anna von Hausswolff habe ich innerlich vielleicht schon länger gewartet, 2020 hat sich diese außergewöhnliche Künstlerin aber endlich vor mir entfaltet. Schon im letzten Jahr hatte sie durch ihre Kollaboration mit meinen All-Time-Helden Swans meine Aufmerksamkeit gewonnen, ihr in diesem Jahr erschienenes Instrumental-Album "All Thoughts Fly" gab mir dann die Gelegenheit, einmal etwas tiefer in ihren Kosmos einzusteigen. Hängengeblieben ist dabei vor allem die konkurrenzlos geniale Vorgängerplatte "Dead Magic", die Horror und Schönheit, kleine Momente und epochales Kopfkino auf virtuose Art und Weise vereinigt. In den letzten Sekunden von "The Mysterious Vanishing Of Electra" erleide ich jedes Mal tiefe emotionale Reaktionen von Tränen bis Angstschweiß - was für unfassbare Musik!

Konzeptalbum des Jahres

Wer sich gefragt hat, wer bei meinem inneren erbitterten Kampf um das Album des Jahres denn nun knapp den zweiten Platz gemacht hat, dem gebe ich hiermit die Antwort. Ich muss eingestehen, dass ich der Zukunft von Enter Shikari nach dem insgesamt eher mittelmäßigen "The Spark" eher pessimistisch entgegengeblickt hatte. Für mich stand die Band mit diesem Album auf der Schwelle eine Gruppe zu werden, die sich stetig zum Besseren entwickelt hatte, aber irgendwann übers Ziel hinausschießen musste. Doch "Nothing Is True & Everything Is Possible" hat mich auf vielen Ebenen so dermaßen beeindruckt, dass ich alle meine vorherigen Zweifel wieder ausradieren musste. Die sechste Platte der Briten hat es mir vor allem deswegen angetan, weil sie eindeutig als allumfassendes Album konzipiert ist und es trotzdem fertigbringt, völlig nahtlos scheinbar komplett gegensätzliche Stile nebeneinander zu stellen. So hören wir auf dieser Platte ein rein instrumentales Orchesterwerk, einen karikativen Jazz-Walzer, einnehmenden Synthie-Pop und packenden Rave-Rock. Das mag nach hirnlosem Genre-Geflexe klingen, ist im Gesamtergebnis aber so organisch, dass man Vergleiche zu Twenty One Pilots oder Bring Me The Horizons "Amo" kaum wagen mag.

Unerwartetster Hit des Jahres

Ich verwende kein Spotify, aber hätte ich wie alle anderen in meinem Freundeskreis einen schicken Jahresrückblick meiner gehörten Musik auf dem Präsentierteller serviert bekommen, wäre unter den meistgespielten Songs wohl tatsächlich "Lonely" von Justin Bieber und Benny Blanco gelandet - die erste Single der kanadischen Pop-Ikone, die ich wirklich unironisch toll finde. Zur Wahrheit gehört dabei sicherlich auch, dass mich Thema und Grundstimmung dieses Songs genau zur richtigen Zeit meines Lebens getroffen haben - aber es lässt sich trotzdem nicht verneinen, dass "Lonely" genau den künstlerischen Entscheidungen entgegentritt, die Justin Bieber in meinen Ohren sonst immer so derartig angreifbar gemacht haben. Statt auf völlig überzogenes Stimm-Gepose zu setzen zeichnet sich diese Single nämlich durch Minimalismus und Schlichtheit aus, was Bieber millionenfach glaubwürdiger und nahbarer wirken lässt. Benny Blancos Lo-Fi-Piano fügt sich in dieses Konstrukt deswegen hervorragend ein, die Vokallinien des Songs überzeugen gerade durch ihre Unaufgeregtheit. Das Konstrukt um den Künstler herum macht es leider manchmal schwer, solche Musik ehrlich genießen zu können: Fans fangen in Reaction-Videos auf den Song an zu heulen, weil sie ernsthaft glauben, irgendetwas von Biebers Persönlichkeit gut zu kennen. Dass eine Single namens "Lonely" in Zeiten von Selbstisolation und Abgeschiedenheit erscheint, ist mit Sicherheit auch ein verdächtiger Schachzug großer Musikunternehmen. Und in den diversen Live-Performances der Single verfällt Bieber leider auch wieder allzu oft in alte Muster und nutzt den Song eher als Angeber-Plattform für seine Stimmakrobatik als für den Ausdruck echter Gefühle. Deswegen meine Empfehlung: Einfach alles ignorieren und die Akustik-Version auf Youtube anhören. Vollkommener wird dieser Song nicht.

Single des Jahres

Das ganze Jahr über habe ich mich gefragt, wie es eigentlich sein kann, dass ich plötzlich Boston Manor gut finde - eine Band, die sich mit dem Pop-Punk früher einmal einem meiner Genre-Erzfeinde gewidmet hatte. Aber ein Song wie "On A High Ledge" zeigt dann eben doch, wie emanzipiert diese Gruppe mittlerweile ist. Selten habe ich männliche Fragilität so derartig mitreißend vertont gehört wie in diesem Song. Die Gitarren wirbeln wie ein dramatisches Donnergrollen, der Text ist markerschütternd, beim Finale muss ich immer wieder schlucken. Schwer zu ertragen, aber so wichtig.

Augenroller des Jahres

Ich dachte ja in irgendeiner illusorischen Fantasiewelt von vor ein paar Jahren tatsächlich mal, dass wir mit der zunehmenden Irrelevanz von Rockmusik im Mainstream allmählich an einen Punkt angelangen, an dem sich in diesem Genre die echten Perlen und wahrhaftig gut gestrickten Songs durchsetzen werden, weil eben nur noch die wahren Genießer am Ball bleiben. Bring Me The Horizon, die plötzlich nur wieder gefeiert werden, weil sie auf "Post Human: Survival Horror" Schreie und Gitarren benutzen, haben für mich in diesem Jahr leidlich das Gegenteil bewiesen. Alle schmeißen mit Lobeshymnen um sich, attestieren der Band die Wiederfindung ihrer Wurzeln und ignorieren dabei völlig, dass sich die Qualität einer Gruppe nie durch ein Genre-Label ausdrücken lassen sollte. Ein "Hospital For Souls" kann über diese Popcorn-Metal-EP nur lachen und selbst "Amo", das nicht unbedingt zu meinen Lieblingsalben der Band zählt, hat im Vergleich wirklich hundert Mal mehr zu bieten als das unerträglich vorhersehbare Songwriting von diesem Quatsch. Sorry, aber wenn uns auf so etwas Durchschnittliches so dermaßen einer abgeht, dann ist Rock vielleicht wirklich tot.