Reviews

Swans und „Leaving Meaning“: Energiewende

Dass Michael Gira mittlerweile zum fünfzehnten Mal ein Monumentalwerk mit seinem Avantgarde-Noise-Kollektiv Swans veröffentlicht, ist schon anhand nackter Zahlen beeindruckend genug. Dass die Band auch mit „Leaving Meaning“ noch zu den intensivsten Erlebnissen des weltweiten Musikmarkts zählt, ist das eigentliche Wunder.
Swans Leaving Meaning Cover

Dass Swans auch heute noch in einem wissenden Kreis unumstößliche Relevanz besitzen, ist zweifellos auch der Tatsache geschuldet, dass Gira mit seinen wechselnden Mitstreiter*Innen stets die Progression in neue künstlerische Perioden wagte. Seit dem Comeback des Projekts im Jahr 2010 deutet die Band ihre prägnante Überlangsamkeit in unheimlich differenziert aufgetürmten Klangschichtungen aus, die immer wieder die Noise-Klimax suchen, aber dazwischen eben eine Vielzahl anderer Ebenen bedienen. Für die Ausgestaltung einer Idee lassen sich Swans zum Beispiel auf ihrem Über-Werk „To Be Kind“ so derartig viel Zeit, dass man gerade im Zeitalter der überhasteten Streaming-Schnellschüsse kaum anders kann, als überwältigt zu sein.

Auch „Leaving Meaning“ macht vor diesem Ansatz nicht Halt und wird dadurch zu einem Album, das nur einer Hörerschaft mit maximalem Durchhaltevermögen die Chance gibt, sich dieser Platte vollständig zu öffnen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Swans auf ihrem neuen Werk auch ein stückweit die Tür für diejenigen öffnen, die auf „To Be Kind“ an einem Dreißigminüter wie „Bring The Sun / Toussaint L’Ouverture“ gescheitert waren. So pendelt sich nicht nur die Spielzeit der allermeisten Tracks bei grob zehn Minuten ein, Swans wagen sich auch – man höre und staune – in geradezu sanftmütige Gefilde. Zwar ist das dauerpräsente Delirium in den endlosen Mantren der Band schon immer Teil des Repertoires gewesen, derartig im Vordergrund wie auf „Leaving Meaning“ stand es aber selten. Das beginnt schon bei dem zweiminütigen Intro „Hums“, das umherwabernde Gitarrenanschläge über das Fundament eines schnarrend-monotonen Synthie-Signals legt. Der Einstieg mündet nahtlos in „Annaline“, in dem Swans eine für ihre Verhältnisse geradezu frappierend klischeehafte Instrumentierung mit Klavier und Streichern wählen, die sich um den klagenden Sprechgesang von Michael Gira garnt. Dass Swans diese Ästhetik mit ihrer unnachahmlich wellenförmigen Dramaturgie ausgestalten, sorgt aber dafür, dass sich der Sound des Songs nicht wie der Verlust einer Individualität, sondern vielmehr wie eine gelungene Erweiterung des Swans-Kosmos‘ anfühlt.

„Leaving Meaning“ ist kein perfektes Album. Swans belegen zwar erneut eindrucksvoll, mit welcher unglaublichen Präsenz ihr Werk seine geradezu hypnotische Wirkung entfaltet, dennoch läuft die Platte in wenigen Ausreißern auf etwas spröden Grund, weil die Band sich etwas zu sehr auf die Komponente der unaufhörlichen Trance verlässt. Dennoch sind es vor allem einige absolut überragende Highlights, durch die einem bei „Leaving Meaning“ bisweilen der Mund offen steht. Das unglaubliche „Amnesia“ kontrastiert so zum Beispiel warme Akustikgitarren mit plötzlich aufstrebenden Sitar-Monumenten, die im Gegensatz zum typisch langatmigen Swans-Aufbau mit unheimlicher Wucht und Überwältigung eintreten. Das Überraschungsmoment allein ist dabei nicht die singulär beeindruckende Komponente, sondern vor allem die ihn begleitende, unglaublich ausdifferenzierte Instrumentierung, in der sich das Glockenspiel ebenso deutlich wie Streicher und Pauken offenbaren. Finalisierend schleicht sich sogar fremdartiges Gelächter ein, das eine deutliche Reminiszenz an das Swans-Meisterwerk „Just A Little Boy“ darstellt. Die Produktion von „Leaving Meaning“ ist schlicht überragend, jede noch so kleine Komponente brilliert in glasklarem Soundbild. Dadurch entsteht ein Gesamtkunstwerk, in dem jedes Detail exakt auszumachen ist, das aber trotzdem durch seine schieren Vollklang mitreißen kann.

Ebenso unfassbar ist das großartige „The Nub“, das den vielleicht gewaltigsten Aufbau des gesamten Albums birgt und aus einem unheimlich nahbaren Ambient-Nebel mit Klavierklängen und wirrer Perkussion in ein irres Meer aus erdrückenden Blechbläsern mündet, die fast an das Finale der aktuellen Daughters-Platte erinnern. Gastsänger Baby Dee verleiht diesem Konstrukt einen unheimlichen Glanz mit seiner hohen Stimme, die durch eine Dopplung einen geradezu geisterhaften Tonus verliehen bekommt. „The Nub“ klingt wie das übernatürliche Produkt aus einer anderen Dimension und erinnert gar an die Ästhetik von Elektronik-Pionier und Avantgarde-Komponist Karlheinz Stockhausen.

„Leaving Meaning“ macht es sich bei seiner mal wieder exorbitant langen Spielzeit mal wieder selbst schwer, durchgängig den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Es ist daher umso beeindruckender, dass es Swans fast gelingt, mit ihrer Platte pausenlos zu fesseln, immer wieder neue Ideen zu etablieren und die Repetition stets nur als Fundament für das durchgängige Einführen neuer Klangschichten zu nutzen. „Leaving Meaning“ ist wohl eine der am schönsten instrumentierten und dadurch auch einnehmendsten Swans-Produktionen überhaupt, selten hat Michael Gira derartig vielfältig mit seinen Produktionsmöglichkeiten gearbeitet. Seine Ergebnisse führen selten zu trocken und viel öfter zu warmen Kompositionen, wodurch Swans so außerweltlich wie noch nie klingen. So viele Superlative auf einem fünfzehnten Album? Wohlmöglich haben wir es mit einer der besten Bands der laufenden Dekade zu tun.

Fazit

8.3
Wertung

Marginale Längen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Swans erneut ein absolutes Meisterwerk gelungen ist, für das man die Zähne zusammenbeißen muss. Wer sich „Leaving Meaning“ öffnet, wird aber in eine Welt hineingezogen, die mehr als nur Musik ist. Derartig begnadete Künstler wie Michael Gira gibt es auf dieser Welt nicht viele.

Jakob Uhlig
7.3
Wertung

Für Swans muss man vor allem eines mitbringen – Zeit. Auch „Leaving Meaning“ ist wieder ein monumentales Werk geworden, das sich zuweilen zu orchestraler Würde erhebt und durch gezielt gesetzte Disharmonien ein stetes Unbehaglichkeitsgefühl erzeugt. Soweit, so gewohnt, wenngleich die Platte eine neuerliche Transzendenz aufweist, die insbesondere aus Tracks wie „It’s Coming, It’s Real“ und dem großartigem „Amnesia“ förmlich herauszubrechen scheint. „My Phantom Limb“ beschließt schließlich das Album und hält seine Hörerschaft dabei im akustischen Würgegriff der Beklemmung, bevor es sie verängstigend und verstört zurücklässt. Ein weiteres Mal, wenngleich nicht ganz so meisterhaft durchkonzeptioniert wie auf dem Swans-Referenzwerk „To Be Kind“.

Felix ten Thoren