Kolumne

Kais Jahresrückblick 2019

2019 war für mich wohl ein relativ prägendes Jahr. Nicht nur habe ich bei einem wundertollen Magazin namens Album der Woche angefangen, meine Meinung über Mucke in die Welt hinauszuposaunen, auch habe ich in diesem Jahr so viel und so intensiv Musik gehört wie nie zuvor. Das betrifft auch und vor allem Musik außerhalb meiner Komfortzone aus schrammeligen Gitarren und kratzigen Shouts.
Kai Jahresrückblick

Album des Jahres: Coilguns - “Watchwinders”

Die grandiosen Coilguns bescherten mir mit “Watchwinders” die dritte Review, die ich in meiner noch recht kurzen Zeit bei Album der Woche schreiben durfte, und die Platte hat mich weggeblasen. Die Kombination aus den kreischenden Vocals von Louis Jucker und den düsteren Instrumentals haben mich schwer beeindruckt und die Vinyl hat sich prompt einen Stammplatz auf meinem Plattenteller erschrien. Es fällt mir bisweilen noch immer schwer, den Sound dieses Albums und dieser Band in Worte zu fassen, so ungreifbar und gleichzeitig so intensiv ist “Watchwinders”.

Neuentdeckung des Jahres: Pabst

Redaktionskollege Felix empfahl mir Pabst bereits Anfang 2019, das großartige Album “Chlorine” ging allerdings bis zum September irgendwo in meinem geistigen “Muss ich mal reinhören”-Ordner unter. Dann kam “Forever O.K.” und ich war gehookt. Daraufhin wurde auch “Chlorine” Dauergast meiner Hörgewohnheiten und sorgte mit seinem körnigen Gitarrensound und den schnarrenden Vocals für viel Bewegungsdrang und den ein oder anderen unangenehm anhänglichen Ohrwurm. Und so stehen Pabst sinnbildlich für die eigentliche Erkenntnis des Jahres: Fuzz ist der geilste Gitarreneffekt.

Song des Jahres: Biffy Clyro - “Balance, Not Symmetry”

Seit Ellipsis warte ich sehnsüchtig auf das nächste Album von Biffy Clyro. 2017 hieß es dann: “Wir arbeiten an zwei Alben.” Wie, gleich zwei? Doppelalbum? Wenig später die Ankündigung: Es wird ein MTV Unplugged geben. Nicht unbedingt das, was ich mir gewünscht hatte, aber trotzdem super. Dann hieß es, die Band würde einen Film-Score schreiben. Na toll, also immer noch keine neue Platte. Und dann kam von einem Tag auf den anderen “Balance, Not Symmetry”. Das Album zum Film ist nur knapp nicht mein Album des Jahres geworden, es war aber vor allem der Titelsong, von dem ich einfach nicht genug bekommen konnte. Nicht nur, dass schon mit der ersten Textzeile “I don’t wanna be defeated I just wanna fuck, what?!” der Radiotauglichkeit ein dicker Mittelfinger entgegengestreckt wurde, der Track klingt auch noch so anders und gleichzeitig so unvergleichlich nach Biffy, ich musste ihn einfach lieben.

Überraschung des Jahres: Kummer - “KIOX”

“KIOX” ist eins dieser Alben, dessen Großartigkeit wahrscheinlich vor einem Jahr noch völlig an mir vorbeigegangen wäre. Zum Glück war das nicht der Fall, denn das hätte mir wohl eine der vor allem textlich berührendsten Album-Erfahrungen des Jahres vorenthalten. Die Verletzlichkeit von “KIOX” steht Kummer mindestens ebenso gut wie die ironische Art der meisten Kraftklub-Songs. Das Album ist voll von persönlichen Anekdoten und scharfer Beobachtungsgabe. Im deutschsprachigen Sprechgesang hat dieses Level 2019 wohl sonst nur Fatoni mit dem grandiosen “Andorra” erreicht.

Enttäuschung des Jahres: 8kids - “Blūten”

Kommen wir zu einem kleinen Dämpfer, denn 2019 hatte neben vielen tollen Musik-Erfahrungen auch einige mehr oder minder herbe Enttäuschungen auf Lager. Eine davon war zweifelsohne “Fear Inoculum” von Tool. Allerdings waren da wohl nach 13 Jahren die Erwartungen derart hoch, dass die Ernüchterung wohl vorprogrammiert war. Etwas herber viel da meine Reaktion auf das Zweitlingswerk der Darmstädter 8kids aus. Ich war und bin immer noch großer Fan von “Denen, die wir waren”, Songs wie “Vis á Vis” und “Kann mich jemand hören” lösen zuferlässig Gänsehaut bei mir aus. Umso bitterer war der Nachgeschmack des Nachfolgers, der mich leider nur wenig bis gar nicht zu beeindrucken wusste. Schon die halbgare HipHop-Rock-Fusion “Wir bleiben Kids” löste höchstens ein Schaudern aus, von Gänsehaut keine Spur. Einzig das Riff des Songs “Kraft” hat sich nachhaltig in meinen auditiven Kortex gebohrt.

8kids Blūten Cover

Konzert des Jahres: FJØRT im Bastard Club Osnabrück

FJØRT

Laut. Groß. Brachial. Wuchtig. Intensiv. Gewaltig. Sperrig. Kraftvoll. Hemmungslos. Mächtig. Majestätisch. Erhaben. Kristallklar. Beeindruckend. Aufwühlend. Aggressiv. Laut.

Der Bastard Club in Osnabrück

Eng. Klein. Stickig. Dunkel. Abgewetzt. Schmal. Randvoll. Verschwitzt. Eng.

03. Mai 2019

Kontakt. Aufprall. Eskalation. Abriss. Demontage. Heiserkeit.

Glück.

Fjort

Textzeile des Jahres: Kora Winter - “Wasserbett”

Wer 2019 Teil der Album-der-Woche-Redaktion war, kam an einer Platte nicht vorbei: Kora Winters Langspiel-Debüt “BITTER” hat nicht nur erstmalig in der AdW-Geschichte die Höchstwertung 10/10 abgeräumt, sondern auch bei mir bleibende Spuren hinterlassen. Maßgebliche Verantwortung dafür trägt der Song “Wasserbett” und vor allem die folgende Zeile: “Hundert Ringe an den Fingern, tausend Ketten um den Hals. Manchmal ziehn sie mich zu Boden, manchmal trag ich sie mit stolz.” Und schon beim Schreiben dieser Worte merke ich, wie mich die aggressiv ehrliche Delivery des Sängers Hakan Halaç in einen anhaltenden Ohrwurm-Strudel reißt.

Artwork des Jahres: Psychedelic Porn Crumpets - “And Now For The Watchamacallit”

Die australischen Fuzz-Rocker der Psychedelic Porn Crumpets hätten in gleich mehreren Kategorien dieses Rückblicks eine Auszeichnung verdient. Ihr drittes Album mit dem großartigen Namen “And Now For The Watchamacallit” mit seinen wunderschön tanzbaren und gleichzeitig sperrigen Gitarrenriffs, schrammte knapp an meinem Album des Jahres vorbei, und ein schwitziges Konzert im Hamburger Hafenklang hätte beinahe FJØRT vom Thron der Live-Erfahrungen verdrängt. Aber zum Glück gibt es ja neben der Erfindung absurder Namen noch eine andere Kategorie, in der “And Now For The Watchamacallit” so schnell niemand etwas vor macht. Das Artwork des Albums könnte den Bandnamen nicht besser visualisieren und bereichert jeden Bilderrahmen in mindestens der gleichen Weise, wie das Album selbst.

Interviewgast des Jahres: Thees Uhlmann

In meinem momentanen Alter erschaudere ich, wenn ich an Dinge wie Altersvorsorge oder Steuererklärungen denke. Thees Uhlmann hat allerdings in diesem Jahr gezeigt, dass Altern auch funktioniert, ohne die große Klappe und die Schlagfertigkeit auf dem Weg zu opfern. Stellvertretend für all die tollen Interviews, die Thees zu seiner famosen Platte “Junkies und Scientologen” gegeben hat, soll ein Zitat aus seinem Gespräch im Hotel-Matze-Podcast stehen. Da haut Thees während eines kleinen Rants über den Brexit folgendes raus: “Oasis, Blur, Fish ‘n Chips und Interrailticket, es kann doch nich' sein, dass ihr jetzt den Brexit wollt![...] Denn die Mischbatterie kommt immer noch aus Kontinentaleuropa ihr Wichser!”

Thees Uhlmann Junkies und Scientologen Cover