Dass „Bitter“ noch so viel Sorgfalt in den abschließenden Zügen benötigt, hängt auch damit zusammen, dass Kora Winters erster Longplayer im Kosmos des Quintetts eine bisher ungekannte Arbeit erfordert. „Wir wollten kein ‚Welk‘ auf 40 Minuten machen“, erklärt Halaç den Unterschied zu bisherigen Projekten. „Eigentlich liebe ich das EP-Format. Durch die Zeitlimitationen nimmt es dir niemand übel, wenn du total verrückte Sachen machst, weil sowas durch die Kürze des Werks viel besser hängenbleibt. Wenn du aber auf einem Album bei jedem Song die krasseste Super-Idee einbaust, dann kann das wirken, als würdest du es zu sehr versuchen. Das Ziel war dieses Mal ein Gesamtvibe über die ganze Platte, in dem alles mit allem zusammenspielt.“ Erst durch diese Kongruenz aller musikalischen Mittel wird „Bitter“ schließlich zu dem allumfassenden Album, das es geworden ist. Halaçs kathartische Fortentwicklung wird deshalb so nahbar, weil man auf der Platte in jeder Minute spürt, dass alle Momentaufnahmen aus der selben Feder stammen.
Nachdem „Bitter“ nun ein vollendetes Produkt ist, denkt Halaç noch einmal über dessen Ursprünge nach – und kommt dabei wieder auf seine Erlebnisse in dem Haus in Brandenburg zurück, die sich im Nachhinein als prägnantes Gefühlsabbild des Sängers erweisen. „Als wir da draußen waren, gab es einen Moment, an dem ich einen regelrechten Nervenzusammenbruch hatte“, beschreibt Halaç die Situation. „Ich wusste gar nicht, woher der kam. Ich bin dann auch früher nach Hause gefahren als die anderen. Im Grunde handelt das Album genau von diesen Momenten. Ich habe in dem Augenblick über genau den Augenblick selbst geschrieben, ohne das wirklich geahnt zu haben.“ Die Erinnerung an dieses Erlebnis begleitet den Sänger noch lange Zeit danach – vor allem, weil er selbst erst einmal verarbeiten muss, was in diesem Moment eigentlich mit ihm geschehen ist. „Ich denke, ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit, einen Schritt zurück zu gehen“, sagt er heute. „Wir haben diese Session an einem Punkt gemacht, an dem noch viel an Grundstrukturen gearbeitet werden musste. Da hatte ich kaum was zu tun, es mussten Gitarre, Bass und Schlagzeug gemacht werden. Im Nachhinein merke ich, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war. Ich hätte einfach die Zeit genießen und nichts machen können. Aber damals dachte ich, dass alles an mir vorbeizieht. An diesem Punkt meines Lebens war ich sowieso sehr fragil und glaubte, nicht dazuzugehören. Dieses Gefühl hat sich potenziert. Ich dachte, dass mich hier niemand braucht. Davon bin ich verrückt geworden. Die Jungs haben damals glaube ich gar nicht so richtig verstanden, was mit mir los war. Das habe ich selbst ja auch nicht.“
Dieses Erlebnis steht geradezu symbolisch für den Anfangspunkt der Wandlung, die Halaç im Entstehungsprozess von „Bitter“ durchmacht. In der folgenden Zeit wird er viel über sich selbst erkennen. Seine Gedanken zieht er aus dem Schreiben von Texten, bei denen er manchmal erst im Nachklang bemerkt, wie prägnant ihn diese eigentlich wiederspiegeln. Kora Winters Album lässt sich deswegen wie das Zeugnis einer Selbsttherapie hören, wie das Kollektiv vieler Augenblicke der Erkenntnis. Halaçs Gefühl der Isolation klingt zum Beispiel sehr deutlich aus dem frustrierten Titelsong heraus, in dem der Protagonist sich verlassen in der Drogenhölle seines eigenen Zuhauses wiederfindet. „5 Gramm tun ihren Zweck/ Und der Abend ist perfekt/ Meine Nachbarn haben Sex/ Ich penn vor der Glotze weg“, heißt es da unterlegt von obskur tänzelnden Klavierakkorden, die sehr bildlich aufkeimenden Wahnsinn abbilden.
Den ersten Schritt zur Heilung aus diesem Tiefpunkt findet sich aber im Song „Eifer“, an den Halaç sich als Startpunkt eines neuen Selbstbewusstseins erinnert. Inmitten zweier Schwalle an verzweifelten Schreien halten Kora Winter kurz inne, inszenieren drei Zeilen beinahe isoliert von jeglichem Instrumental und schaffen damit einen der größten Momente des Albums: „Im Eifer des Gefechts hab ich vergessen wie man lacht/ Ich hab die ganze Zeit damit verbracht nur zu schreien/ Denn dieses Leben wird mein letztes sein.“ Diese Worte machen „Eifer“ zu einem schmerzhaften Moment der Selbsterkenntnis, ein wortwörtlich bitteres Eingeständnis der eigenen Traurigkeit und Destruktivität. „Diese Zeilen in ‚Eifer‘ waren vielleicht der erste Moment, in dem ich eine neue Perspektive auf mein Leben eingenommen habe“, beschreibt Halaç die Wirkung seiner eigenen Worte rückblickend. „Ich habe mir eingestanden, dass in diesem ganzen Um-mich-schlagen eigentlich nichts Anderes als ein Hilferuf steckt. Ich habe wohl insgeheim gehofft, dass jemand merkt, dass ich Halt brauche.“ Aus Halaçs Beschreibung seiner eigenen Verhaltensweisen spricht ein doppeltes Problem. Die eine Seite der Medaille ist die Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle richtig wahrzunehmen, die andere ist die Außenwelt, die diese unbewussten Schreie nicht ernst nimmt. Beide Abgründe muss Kora Winters Debütalbum überwinden. Hilfreich dabei ist auch Bassist Karsten Köberich, der auf „Bitter“ nicht nur viele eigene Gesangspassagen innehat, sondern auch auf textlicher und persönlicher Ebene großen Einfluss auf Halaç genommen hat. „Wir sind uns als Menschen sehr ähnlich“, meint Halaç dazu. „Ich habe mich immer wieder selbst in ihm erkannt. So habe ich ein wenig ‚mit ihm‘ geschrieben.“