Im Kreuzverhör

Im Kreuzverhör #30: Merzbow - "Pulse Demon"

Einmal monatlich stellt sich die Redaktion gemeinsam Platten außerhalb ihrer Komfortzone. Dieses Mal wirft Niels den Noise-Klassiker "Pulse Demon" von Merzbow in den Ring.

Noise ist nicht was für jede:n. Dieses Verhör soll auch nicht unbedingt umstimmen, sondern eher neue Perspektiven eröffnen. Denn eines ist klar: Noise-Musik muss anders als „konventionelle“ Musik gehört und verstanden werden. „Wie sind wir so weit gekommen, dass bewusst unangenehm klingender Sound für uns plötzlich etwas Erstrebenswertes geworden ist?“, schrieb Jakob mal in einem seiner Artikel. Die Frage werde ich auch anhand des Albums „Pulse Demon“ versuchen zu beantworten.

Mit dem Klassiker und wohl bekanntestem Noise-Album „Pulse Demon“ setzt der japanische Musiker und Künstler Merzbow einen Meilenstein, zumindest für die Szene. Diese wird bis heute belächelt und Witze kursieren, dass es mehr Noise-Musiker:innen als Noise-Hörer:innen gebe. Sich stundenlang ASMR-Videos anzuhören ist gesellschaftlich hingegen akzeptiert. Die tragen ja auch nicht das Label „Musik“. Hier macht Merzbow ein Spannungsfeld auf. Denn was zählt als Musik? Braucht Musik denn die heilige Dreifaltigkeit von Rhythmus, Melodie und Harmonie? Oder zählt die Abwesenheit derer (vgl. John Cages 4:33) bzw. das Gegenteil auch als Musik? Der Name „Merzbow“ leitet sich tatsächlich passend vom „Merzbau“ ab. Dieser wiederum war eine Galerie, die von oben bis unten mit Kunst und Formen vollgestopft war. So ungefähr klingt auch „Pulse Demon“ – nach zu viel.

Für mich liegt immer der Vergleich zu Kunst wie abstraktem Expressionismus und Action Painting auch noch aus einem anderen Grund auf der Hand. Redet man mit Leuten über ein Jackson-Pollock-Gemälde, so hört man immer wieder die gleichen Floskeln: „Sowas kann ich auch malen.“, „Das soll Kunst sein?“, „Ich sehe darin keinen Sinn. Was soll das denn bitte bedeuten?“. Natürlich ist es einfacher, Marmor-Skulpturen der Renaissance gut zu finden. Allein die handwerkliche Komponente sollte hier Argument genug sein. Wie schwer es wohl doch sein mag, organische Formen aus hartem Marmor zu schlagen. Aber das ist keine Kategorie, mit der man einen Pollock bewerten kann und es bleibt eine breite Welt an Kunst und Musik verschlossen, wenn man sie mit starren und alten Parametern verstehen und vergleichen will. Noise ist extrem und grenzüberschreitend. Es denkt Sachverhalte, die hunderte von Jahren in der Musik schon geklärt waren, neu: „Ist es reproduzierbar?“, „Wie kann man es notieren?", "Kann man es überhaupt notieren?“. Kann man aber über solche Fragen nicht einfach diskutieren? Naja, Ideen von Pollock können nicht einfach in ein Museum ausgestellt werden, sondern müssen erst manifestiert werden. So ist das auch bei Noise.

Wenn man alle Musikgenres in einer Normalverteilung darstellen würde, so hätten man viele Menschen in der Mitte, die Sachen wie Pop und Rock hören. Geht man immer weiter an die Enden, so durchquert man Genres wie Punk, Metal, Elektro, Jazz und Klassik. Ganz am Ende - da wo der Graph schwindend klein ist – da findet man Musik wie Noise oder Drone. Für mich als Musiker und Musikliebhaber ist es von größter Bedeutung, auch diese Extreme zu erforschen, sich Hörherausforderungen zu stellen und seine Hörgewohnheiten zu erweitern.

Okay, ist Noise also nur eine Manifestation einer grenzüberschreitenden Idee? Nicht nur. Es gibt viele Arten, um Musik zu genießen oder zu verstehen. Über die Lyriks, Erinnerungen, über das Instrumentale oder im Kontext des Albums. Noise hingegen will über das Erlebnis verstanden werden. Hat man den ersten Schock überwunden, so kann man in „Pulse Demon“ sogar kleinste Nuancen hören und das Erlebnis vertieft sich. Für mich persönlich ist „Pulse Demon“ aber auch die Abstinenz jeglicher Ästhetik und daher universell hörbar. Ich such was Härteres als den härtesten Metal, was Düstereres als das Düsterste und die volle Portion Nihilismus, da mich an dem Tag „konventionelle“ Musik in einer absurden Welt im Stich lässt? - Es ist Zeit für „Pulse Demon“ von Merzbow.

Endlich wieder Kreuzverhör. Die schönste Zeit im Monat. Bing. Niels schickt das Album für die erste Ausgabe im neuen Jahr per Telegram rüber. Die Abgabe ist noch eineinhalb Wochen weg. Erstmal auf die lange Bank schieben und abwarten, welche Mittagspause sich für den ersten Anlauf am besten eignen wird. Zeitsprung. Genau eine Woche später. Geeignete Mittagspause. Fix nochmal bei Telegram das Album nachlesen, Suchbegriff bei Spotify reinhacken und Play. Mein erster Gedanke: „Komisches Intro“. Mein zweiter Gedanke: „Ziemlich langes Intro“. Mein dritter Gedanke wandelt sich in eine Befürchtung: „Klingt das jetzt alles so?“. Skip zum nächsten Song. Meine Befürchtung könnte sich bewahrheiten, aber noch existiert ein wenig Hoffnung. Skip zum nächsten Song. Meine Befürchtung bewahrheitet sich endgültig. Alle Hoffnung stirbt. Ich drücke auf Stop. Ein Fiepen klingt in meinen Ohren nach. Auf einmal kommen mir alle meine Vorlieben, für die ich hin und wieder für verrückt erklärt werde, so herrlich normal vor.

Mir wurde bereits diverse Male aus meinem Freundeskreis zugetragen, ich hätte einen "anstrengenden" Musikgeschmack. Dieser Vorwurf hat wohl teilweise eine Berechtigung, denn ich finde durchaus Gefallen an schrammeligem Noise-Rock wie Metz oder Coilguns. Als Niels das Album für die neue Kreuzverhör-Ausgabe offenbarte, wusste ich dank meiner Beteiligung an der Rezension zum neuen Projekt von Merzbow und Boris schon ungefähr, was auf mich zukommen würde. Ich wurde dennoch überrascht. Ich höre vielleicht viel abgefahrenen Scheiß, aber das ist echt nochmal eine Nummer bescheuerter. 73 min. Soundkulisse wie von einem Kondensatormikro, das sich im Auspuff des DeLorean aus "Zurück in die Zukunft" verfangen hat und gerade durch das Raumzeitkontinuum aus den 80ern hierher katapultiert wird. Wenigstens konnte man die diversen Interpretationen von "STUMM433" nach einiger Zeit ausblenden, aber das hier erreicht einfach nochmal ein ganz neues Level an Penetranz. Ich bin auf deine Rechtfertigung gespannt, Niels...