Reviews

Caliban und "Dystopia": Zwischen Zuneigung und Realität

Calibans Alben zu bearbeiten stellt die Schreiberlinen und Schreiberlinge dieser Branche in gesunder Regelmäßigkeit vor eine entscheidende Wahl, bei der es nur zwei Möglichkeiten der Rezension zu geben scheint. Es folgt ein Versuch, sich über diese beiden Varianten hinwegzusetzen.

Jakob Uhlig hat es als Rezensent des Albums "Elements" im Jahr 2018 auf den Punkt gebracht: Caliban erfinden sich von Album zu Album wirklich keineswegs neu. Die Wortwahl lautete damals "Man könnte 'Elements' einfach mit einem Schulterzucken abtun, schreiben, dass dieses Album mal wieder reine Caliban-Standartkost ist und eine solide Fünfer- bis Sechserwertung verteilen." "Elements" lässt sich dabei auch im Jahr 2022 eins zu eins durch "Dystopia" ersetzen. Dass der Autor dieser Zeilen sich damit damals nicht abgefunden hat, ist hier verewigt. Und es stimmt, das Rezept der Truppe um Frontmann Andreas Dörner wirkt so festgefahren wie ein Großteil der Vierzigtonner bei kleinster Steigung der Straße, wenn im deutschen Mittelgebirge mal wieder 3 cm Schnee gefallen sind (was von November bis April regelmäßig vorkommt und den Rest des Straßenverkehrs ohne Ausnahme zur Weißglut bringt).

Warnblinker an und stehen bleiben ist das Stichwort: Auf "Dystopia" ist alles wie immer. Wer es mag, sich die Gehörgänge ohne Wattestab zu reinigen, dreht einfach voll auf. Moshpit geht auch klar, in den Refrains kann man beweisen, dass man auch in schön Mitsingen kann und diese klingen auch nicht weniger gut als zu Zeiten von "The Awakening" im Jahr 2007. Kurzum: Das Rad rollt, während Caliban still stehen. Und genau weil es rollt, kann man es Caliban ja nicht einmal übel nehmen, regelmäßig den gleichen Sound zu bringen. Die Fans der Band werden auch "Dystopia" hinnehmen, abspielen, feiern und vor allem KAUFEN. Der Rest schüttelt halt den Kopf, jedoch nicht aus Genuss der Musik. Und solange das so weiter geht und die Erscheinungen Calibans Absatz finden, hat die Band doch gar keinen Grund sich hinzusetzen und zu überlegen, ob diese oder jene Veränderung der Musik gut tun würde. Es ist sogar davon auszugehen, dass die Band genau diesen Stil selbst liebt, ansonsten würden sie ihn kaum so lange mit sichtbarem Spaß und Ehrgeiz an der Sache durchziehen.

Wer Caliban kennt weiß also bestens, was sie oder ihn erwartet. Genauso sollte es jeder und jedem freigestellt sein, Musik zu kaufen, zu hören, zu verehren. Anstatt die Rezension von "Dystopia" an dieser Stelle zu beenden, wird das Album nun neu bewertet, anders bewertet. Musik und Inhalt hin oder her, es ist doch mindestens genauso wichtig, dass eine Band oder ein Album eine situationsbedingte Zweckmäßigkeit besitzt. Es folgen daher Situationsbeispiele und eine kurze Bewertung, wie "Dystopia" sich in diesen Situationen schlägt. Ein Ratgeber, der Konsequenzen vermeiden und den sinnvollen Einsatz des Metalcore darstellen soll.

Beispiel 1: Die Nachbarn feiern bis früh in den Morgen. Die Wände sind dünn. Es läuft "Radio Paloma" (100% Deutscher Schlager). Man liegt wach und erträgt es. Es gilt nun abzuwarten, bis die Feier beendet ist um dann, kurz aber deutlich, durch den möglichst lauten Einsatz von "Dystopia" den Spieß umzudrehen und die Nachbarn vom Schlafen abzuhalten. Und keine Sorge, kaum unterbrochene Blastbeats im Verhältnis zu dünnen Wänden funktionieren. Immer. Tauglichkeit dieses Albums für diesen persönlichen Rachefeldzug: 10/10

Beispiel 2: Die Fahrlehrerin ist ziemlich umgänglich und erlaubt vor der gefürchteten Autobahnfahrt, die eigene Musik mitzubringen. Jetzt ist Achtsamkeit gefragt, da Autobahnfahrten in der Fahrschule bekanntlich lang sind und gegebenenfalls ein Fast Food Menü aufs Haus der Fahrschule auf dem Spiel steht. Trägt die Fahrlehrerin zumeist schwarz und gibt durch möglichst unlesbare Bandshirts offen ihre Vorlieben preis, spricht rein gar nichts gegen "Dystopia" auf dem Weg nach Wanne-Eickel und zurück. Hat sie jedoch bei der letzten Fahrstunde begeistert von der letzten 90er-Party in der dörflichen Schützenhalle erzählt, Finger weg! In diesem Fall ist die Tauglichkeit des Albums das genaue Gegenteil: 0/10

Beispiel 3: Ihr sollt die Eltern eurer neuen Partnerin oder eures neuen Partners zum ersten Mal vom Stammtisch abholen. Irgendein Gasthof im Nachbarkreis. 30 Minuten pro Strecke. Ihr wisst über die musikalischen Vorlieben der beiden bisher nur, dass sie gerne PUR hört, er steht auf Pink Floyd. Euren neuen Partner möchtet ihr behalten. Bleibt beim Radio und zeigt keinesfalls, dass ihr "Dystopia" auch nur an Bord habt. Bedankt euch später.

Fazit

5
Wertung

Mein persönliches Beispiel 4: Ihr schreibt leidenschaftlich gerne Rezensionen für ein Fanzine für gute Musik und nehmt euch freiwillig einem Album von Caliban an. Grundsätzlich gefällt euch Metalcore sehr gut, Caliban habt ihr bereits live gesehen, einige Vinyl im Schrank und in der Vergangenheit echt gerne gemocht. Dennoch müsst ihr euch eingestehen, dass derselbe Effekt wie zuvor eingetreten ist und alles gleich klingt. Das gilt es zu betonen, ohne die Restzuneigung zur Band zu verlieren. Es geht um Relativierung. Die Musik ist zwar unverändert, aber immer noch mit Erinnerungen verbunden. Tauglichkeit von "Dystopia" dafür: 5/10

Mark Schneider
4.6
Wertung

Alles wie immer im 08/15-Metalcore-Schema. Aber mal im Ernst, wie kann diese Platte sein? Während andere Künstler:innen in der Welt des Metalcore sich entweder weiterentwickeln oder kraftvoll zu ihren Wurzeln zurückgehen, schaffen es Caliban weiterhin, solch uninspirierte und gnadenlos langweilige Musik zu machen, die bis auf die Produktion nichts vorweisen kann, was die Relevanz von "Dystopia" rechtfertigt. Sehr schade, wo doch zumindest einige kurze Momente so stark sind.

Dave Mante