Biffy Clyro und “The Myth of the Happily Ever After”: Die rote Pille

Biffy Clyro reaktivieren ein Jahr nach Release ihres achten Studioalbums das von ihnen erfundene Konzept der Companion-Records. Die musikalische Reaktion auf “ACOE” ist düsterer, pessimistischer, und zugleich triumphaler.

Kurz nach dem im Jahr 2007 erschienen Album “Puzzle” begannen die damals gerade frisch in den Rockmainstream eingebrochenen Biffy Clyro eine Tradition, die sich in den kommenden Jahren durch die Veröffentlichungen der Band ziehen würde. Gerade einmal knapp 1 Jahr nach “Puzzle” veröffentlichten die Schotten “Missing Pieces”, das sich nicht nur namentlich direkt auf das vierte Studioalbum der Band bezog. Biffy machten damit die B-Seite zum musikalischen Konzept. In den Jahren danach folgten “Lonely Revolutions” und “Similarities” als Reaktionen auf “Only Revolutions” und “Opposites”. 

Auf den von ihnen selbst so genannten Companion-Records öffnete sich die Band stets ihrer weirderen, sperrigen, düsteren Seite. “Missing Pieces” ist ein In-den-Abgrund-steigen nach dem Tod von Simon Neils Mutter. “Similarities” vereint allerlei Soundspielereien mit teils fast dadaistischen Texten. Und um die Absurdität von “Lonely Revolutions” abzubilden, muss man nicht mehr tun, als die Eröffnungszeile von “Once An Empire” zu zitieren: "I wouldn’t want to get fucked / by a kangaroo / in any position."

Mit “The Myth of the Happily Ever After” stellen Biffy Clyro nun nicht nur musikalisch die Matrixfrage: Nimmst du die blaue Pille oder die rote? Verlierst du dich im schillernden Optimismus von “A Celebration of Endings” oder folgst du “The Myth of the Happily Ever After” und schaust, wie tief der Hasenbau wirklich ist? Entscheidet man sich schließlich für die rote Pille, ändert das ohrenscheinlich erstmal gar nicht allzu viel. Musikalisch orientiert sich “TMOTEA”, wie schon vorherige Companion-Records, stark an “ACOE”. 

Sphärisch getragene Sequenzen mit Streichern, Orgeln und einer Menge Hall erwecken Gospel-Assoziationen, nur um dann kurz vor Endstation Pathos nochmal einen kompletten U-Turn hinzulegen und in halsbrecherischen Riff-Eskapaden ausbrechen. Jeder einzelne Track des Albums hält hier seine ganz eigenen kleinen Überraschungen bereit. Im C-Teil der zweiten Vorabsingle “A Hunger in Your Haunt” erinnern die Gitarrenarrangements zeitweise an das Intro des “Puzzle”-Openers “Living Is A Problem Because Everything Dies”. Im fast schon biblischen “Holy Water” wächst der Song immer weiter an und schließt mit einem fulminanten Finale die erste Hälfte des Albums ab.

Mit dem absolut genialen Closer “Slurpy Slurpy Sleep Sleep” finden sich sogar Reminiszenzen an “Infinity Land”, das wohl mit Abstand sperrigste und gleichzeitig mindestens genauso liebenswürdige aller Biffy-Alben. Mit seiner glitchy Soundästhetik und den komplett unvorhersehbaren Wendungen schaffen die drei Herren aus Ayrshire hier ganz großes Kunststück. Man weiß (vor allem) als Fan dieser Band mittlerweile, wie Biffy Clyro Songs schreiben: Produktion fürs Stadion, Riffs fürs Pit und Texte für rituelle Beschwörungspraktiken. Und trotzdem schafft es “TMOTEA” mit jedem Song wieder, die Erwartungen auszutricksen und doch wieder überraschend und frisch zu sein. 

Textlich merkt man vielleicht die stärksten Kontraste zu “ACOE”. Wurde das noch Ende 2019 quasi fertiggestellt, triefen aus jeder Zeile auf “TMOTEA” die Unsicherheit und der Pessimismus, den die vergangenen 19 Monate auf der Welt hinterlassen haben. Düstere Resignation auf “Witch’s Cup”, verzweifeltes Warten auf Besserung auf “Holy Water”, Wut und Erschütterung auf “Denier”. Aber es bleibt auch Platz für hoffnungsvolle Emotionen. Die aufbauenden Lyrics zu “Unknown Male 01” sind so ein Beispiel, und auch der triumphale, wenn auch maximal kryptische Song “Hara Urara” erwecken den Eindruck, nicht alles sei verloren.

Fazit

9
Wertung

“The Myth of the Happily Ever After” ist schon an und für sich ein starkes Album. Betrachtet man es aber im Kontext zu “A Celebration of Endings”, offenbart sich erst die gesamte Genialität der Platte. So viel Kontrast mit so viel in sich geschlossener Stringenz auf einem Album zu vereinen, ohne dabei abgedroschen oder selbstreferentiell zu klingen, verdient das Prädikat Meisterleistung.

Kai Weingärtner