„The Sand At The Core Of Our Bones“ und „The Land At The End Of Our Toes“ sollten die beiden Nachfolgewerke ursprünglich heißen, man entschied sich aber für das erste Doppelalbum in der Banddiskographie – eine folgenreiche Entscheidung im gerade aufkommenden Streaming-Zeitalter und, noch wichtiger, eine Mammutaufgabe. Waren nicht Bands wie die Red Hot Chili Peppers mit „Stadium Arcadium“ oder die Foo Fighters mit „In Your Honor“ bereits daran gescheitert und präsentierten streckenweise starke Alben, die sich ob der fehlenden Qualität der Fülltracks aber unterm Strich als mittelmäßig herausstellten. Genau das sollte aber laut der Band nicht passieren – ein zweites „Electric Ladyland“ vielleicht?
Das Ergebnis ist nicht weniger als eines der besten Rock-Alben des laufenden Jahrtausends und Alternative auf der Höhe der Zeit. Biffy Clyro schaffen mit „Opposites“ den perfekten Spagat zwischen eingängigen Pop-Melodien, streckenweise sogar Radiotauglichkeit und Progressivität, oder etwas abstrakter: zwischen Kunst und Kommerz. Das Album ist musikalisch vielseitig, durchdacht komponiert und trägt einen unverkennbaren Hang zu ungeraden Taktarten, der Auflösung traditioneller Songstrukturen und Sound-Spielereien in sich. Ihren Kunstanspruch kombiniert das Trio zu jeder Sekunde perfekt mit der Ästhetik des Einfachen.
Großartige, klassische Alternative-Songs wie „Black Chandelier“ warten auf der einen Seite mit gelungenem Songwriting-Handwerk, zerstörerischem Post-Hardcore-Breakdown und nicht zuletzt bittersüßem Text auf: „When it's just the two of us/And a cute little cup of cyanide“. „Victory Over The Sun“ zelebriert dagegen das atmosphärische Spiel verschiedener, völlig diverser Parts in einem Song: Das Intro im 9/4-Takt hält sich noch zurück, bis ein volltaktig-grimmiges Single-Note Riff in den übergroßen 7/4-Refrain überleitet. Mit „Opposite“ ist Neil selbst mit einer klassischen Pop-Ballade ein großer, vielschichtiger Song gelungen, der an den richtigen Stellen die richtigen Dinge anders macht. Das einzige Feature des Albums, „Skylight“, bei dem sich die Band mit dem britischen Filmkomponisten Clint Mansell (Requiem For A Dream, Black Swan) zusammengetan hat, zeigt ihre Seite für elektronischen Post-Rock, der an ihre Landsmänner Mogwai erinnert. „Stingin Bell“ und „Spanish Radio“ schaffen mit dem Einsatz einer Blaskapelle bzw. eines Dudelsacks den irrwitzigen Versuch, diese Instrumente in einen gelungenen Prog-Alternative-Kontext zu setzen.
Im Grunde könnte man so für jeden einzelnen der 20 Tracks vorgehen – jedes Glied dieses Albums beinhaltet mehr Musikalität und Innovation als die meisten anderen Alben auf voller Länge. Ob es nicht auch die abgespeckte Version mit 14 Songs oder die ein oder andere Stadionhymne („Biblical“) weniger getan hätte, ist dabei fraglich. Unterm Strich gelang Biffy Clyro damit vielleicht kein „Sgt. Peppers“, aber nicht weniger als das beste Doppelalbum der letzten 35 Jahre und einige der besten Songs moderner Rockmusik, eine Tatsache, an der sich auch in fünf Jahren nichts geändert hat, denn eine ähnliche Leistung einer Band steht bislang aus (die Band selbst scheiterte daran 2016 mit „Ellipsis“). „Opposites“ ist und bleibt ein Meilenstein, war 2013 eines der wenigen Alben der letzten 20 Jahre, das der Rockmusik einige bitter nötige, geschmackvolle Innovationen gebracht hat und wartet mit seinem Paradebeispiel daran, wie progressive Musik im Streaming-Zeitalter zu klingen hat, bislang noch auf etwas Gleichwertiges. Steven Wilson würde sagen, sie hätten Besuch vom Genie gehabt.