Im Kreuzverhör

Im Kreuzverhör #8: Tokio Hotel - "Zimmer 483"

Einmal monatlich stellt sich die Redaktion gemeinsam Platten außerhalb ihrer Komfortzone. Dieses Mal wirft Jakob umstrittenen Teenie-Rock von Tokio Hotel in den Ring. Als Gast ist dieses Mal Tim Schwöbel von City Kids Feel The Beat dabei.
Tokio Hotel Kreuzverhör

Eines meiner prägnantesten Erlebnisse mit Tokio Hotel begab sich, als ich etwa neun Jahre alt war. Ich gehörte zu der Fraktion der Kinder und Jugendlichen, die diese Band toll fand und nicht zu der, die sich die Ausrottung von Bill Kaulitz & Co. zur Mission gemacht hatten – irgendwas dazwischen gab es ja schlichtweg nicht. Es war Weihnachten. Meine Eltern schenkten mir „Schrei“, das viel beachtete Debüt von Tokio Hotel, und der kleine Jakob war äußerst glücklich mit dem Neuankömmling seiner zu diesem Zeitpunkt noch sehr überschaubaren CD-Sammlung, die bis dato nur aus zwei Silbermond-Alben bestanden hatte. Nach der Bescherung kam noch eine benachbarte Familie zu Besuch. Die etwa vierzigjährige Mutter sah mich mit großen Augen an, als sie die CD in meiner Hand bemerkte, und hielt mir sogleich einen Vortrag darüber, wie es denn sein könnte, dass ich so furchtbar geschmacklose Musik höre, und dass Tokio Hotel doch generell totaler Mist seien. Zur Erinnerung: Sie sprach mit einem damals Neunjährigen, und mein Vater war von dieser Aktion zurecht nicht ganz so begeistert. Aus dieser Geschichte ziehe ich bis heute ein wichtiges Fazit: Tokio Hotel wären mit Sicherheit ganz anders rezipiert worden, wenn um sie nicht ein derartig abschreckender Teenie-Kult entstanden wäre. Damit will ich nicht sagen, dass ein Album wie „Zimmer 483“ ein Meisterwerk wäre, aber tatsächlich beherbergt diese Platte Songs, die im Katalog der meisten anderen Bands mit Sicherheit Anerkennung erfahren hätten. Wer würde zum Beispiel bei einem gut geschriebenen Live-Brecher wie „Wo sind eure Hände“ nicht total ausrasten, wenn die Donots ihn spielen würden? Wer würde bei einer Emo-Hymne wie „Heilig“ nicht pathetisch mitgrölen, wenn sie von Blink-182 stammen würde? Zugegeben, der sehr melodramatische Gesang von Bill Kaulitz ist stellenweise wirklich schwer zu ertragen, aber das kriegt Basti von Callejon definitiv noch schlimmer hin. Ich bleibe dabei: Wer Tokio Hotel prinzipiell fertig macht, der hat nicht viel mehr als „Durch den Monsun“ gehört und die Pro-Sieben-Doku über das völlig durchgeknallte Fangirl Vanessa gesehen. „Zimmer 483“ ist Musik, die man doof finden kann – aber nicht unbedingt muss.

Zum Glück geht es im Kreuzverhör-Format ausschließlich darum, seine Kollegen zu quälen und ihnen mal Musik außerhalb ihrer Komfortzone vorzusetzen. Aber das ist wie beim Tätowieren: alles freiwillig und man kann jederzeit „Stop“ sagen beziehungsweise drücken. Überraschenderweise habe ich das bei der Platte zur hiesigen Ausgabe nicht getan. Ich habe mich viel mehr dabei beobachtet, wie ich zum ersten Mal einen Song von Tokio Hotel gehört habe, der nicht mit „Das Fenster öffnet sich nicht mehr“ beginnt. „Zimmer 483“ ist eine vergleichsweise spannende Platte. Man weiß ja, dass die sich damals knapp um die Volljährigkeit befindenden Mitglieder der Band weder Musik noch Text wirklich selbst verzapft haben. Doch mit dem Blick aus einer Dekade später findet man auf der Platte glattweg Klänge, die man so heute von Schmutzki oder Milliarden nicht besser kennt. Titel wie „Reden“ halte ich aus heutiger Sicht hingegen für außerordentlich fragwürdig - vor allem, wenn man bedenkt, dass Tokio Hotels Publikum im Schnitt 12-14 Jahre alt war. Insgesamt ist Zimmer 483 fast so einheitlich uneinheitlich wie man es von Die-Ärzte-Alben gewöhnt ist. Und das ist schon heftiges Namedropping, was ich hier betreibe, für eine Band, die so ekelhaft gepusht und gehyped wurde, dass sie kurz darauf in die USA flüchtete und dort heute immer noch facettenlosen Rock produziert. Aber heute kann man wohl schon sagen, dass „Zimmer 483“ und „Schrei“ zwei ganz witzige Alben waren beziehungsweise sind, ohne von links und rechts musikjournalistische Schellen zu kassieren. Bills Stimme war für einen damals 16–18 Jahre alten Knirps halt auch gar nicht so übel – und/oder wurde tight produziert.  Anyway, es war witzig, das mal bewusst zu hören. Jetzt wird die Tür zu „Zimmer 483“ auch wieder zugeslammed und in die Heilige Hölle runtergedived. Peace out.

 

Da mir mein erstes Kreuzverhör nicht nur eine völlig fremde Welt (Vaporwave) gezeigt, sondern auch viel Spaß gemacht hat, habe ich auch beim zweiten die virtuelle Hand gehoben. Ich bin ehrlich, mein erster Gedanke, nachdem mir der gute Jakob das Album der aktuellen Ausgabe mitteilte, war folgender: „Ach du Sch... Tokio Hotel. Ernsthaft?“. Der Albumtitel „Zimmer 483“ sagte mir wiederum gar nichts, obwohl die Platte aus dem Jahr 2007 ist. Auch ich war im Jahr 2005 in sehr (!) jungen Jahren freiwilliger Eigentümer des Debütalbums „Schrei“, es blieb aber irgendwie bei diesem einen Album und ich drehte der Band aufgrund des Hypes damals schon den Rücken zu. Wie man das als Kind so macht. Ich merke heute schnell, dass ich über alles Weitere der Band wirklich gar nichts weiß und seitdem keinen Song mehr freiwillig angehört habe. Wenn das nicht gute Voraussetzungen sind, um das Thema Tokio Hotel mit „Zimmer 483“ völlig neutral erneut anzugehen. Aber jetzt endlich zum Musikalischen. Ich wählte fürs Erste den Weg, mich nur nebenbei vom Album beschallen zu lassen und startete Playstation-Game und Spotify gleichzeitig im festen Willen, das Album komplett zu „schaffen“. Zwölf Songs später sind mir unglaublich viele Gedanken durch den Kopf geschossen. Die Musik hat sich gegenüber „Schrei“ unfassbar gewandelt. Bills Stimme ist zwar nach wie vor zumindest in den Strophen ziemlich kindlich, aber nicht mehr so schlimm wie zuvor. Auf mich wirkt „Zimmer 483“ so, als wollte die Band damals mit allen Mitteln erwachsener wirken. Ein Indiz dafür ist der größere Anteil von härteren Songs. Würde man heute „Ich brech aus“ 100 Leuten vorspielen, würde kein Uneingeweihter auch nur ansatzweise auf den Gedanken kommen, er wäre von Tokio Hotel. Zumindest 24 Sekunden lang, dann aufgrund des Gesangs aber wahrscheinlich sofort. Ein weiteres Indiz ist textlicher Natur. „Wir wollten nur reden und jetzt liegst du hier, und ich lieg daneben (...)“. Da davon auszugehen ist, dass zuvor nicht die Sterne angesehen wurden, wundert mich dieser Song auf einem Album, der im Jahr 2007 überwiegend von Minderjährigen gefeierten Band ziemlich und sollte als eindeutiges Statement gesehen werden, von diesem Image wegzuwollen. Fazit: Die erwartete Qual blieb weitestgehend aus und ich habe „Zimmer 483“ nicht nur einmal durchgehört. Mittlerweile erwische ich mich manchmal sogar beim Mitsingen und ganz nüchtern betrachtet ist das Album rein musikalisch gar nicht so weit von vielen deutschen Bands weg, die ich heute normalerweise so höre. Auch wenn es Tokio Hotel definitiv mit keinem Album wieder in den Kreis meiner regelmäßig laufenden Platten schaffen werden, eine nette Abwechslung nach über zehn Jahren war dieses Kreuzverhör allemal.

 

Natürlich ist der Name Tokio Hotel auch bei mir mit Vorurteilen behaftet. Daher: „Vorurteilsmodus – off“. Blödsinn! So funktioniert das sowieso nicht! Allein, weil ich das Album ja nicht zum ersten Mal höre. Zu allererst, musikalisch ist diese Platte wirklich interessant und das nicht im negativen Sinne. Manches davon hat man Jahre später ja sogar nochmal gehört, beispielsweise bei We Came As Romans. Aber beim Gesang kommt mir immer wieder Frank Goosen in den Kopf. In einer Geschichte erzählt er aus seiner Jugend in den 80ern, als sein Schwarm ihm Angelo Branduardi zeigt. Zitat Goosen: „Watt jammert der den so? Will der zu seiner Mammi? Hat dem jemand den Schnuller weggenommen?“ Aber ich weiß auch noch wie beschissen das damals angekommen ist, daher reduziere ich meine negativen Gefühle auf ein „Nicht so mein Fall“. Da helfen auch keine interessanten Intrumentals, der Gesang geht mir auf die Nerven. Aber halt, „Nicht so mein Fall“. Ich bleib lieber im Zimmer 1408.

 

Ich war gerade einmal 15 Jahre alt, als das bereits zweite Studioalbum von Tokio Hotel veröffentlicht wurde. Wie viele andere habe ich in der damaligen Zeit natürlich den riesigen Hype um die Band mitbekommen und zwanghaft aufgedrückt bekommen. Allein aufgrund der aktuellen medialen Präsenz eines der Bandmitglieder und des auffallenden Kleidungsstils seit jeher ist es schwierig über diese Band zu schreiben, was nicht bedeutet, dass alles von ihr schlecht oder falsch sei, aber eben schwierig. An mir persönlich ist die Band komplett vorbei gegangen, weil ich zu dieser Zeit noch voll auf Künstler wie Blink, Papa Roach oder Sum 41 abgegangen bin. Der Sinn des Kreuzverhörs ist es, aus der eigenen Komfortzone heraus zu kommen und zu berichten. Das ist hier gelungen. Die Band hatte es geschafft mit dem zweiten Album gleich wieder eine Chartplatzierung zu erreichen und hat mit den eher düsteren und teils verzweifelten Texten einer Jugendkultur der damaligen Zeit ein Sprachrohr gegeben. Ich persönlich zähle mich nicht zu den damaligen Hörern. Das Album ist abwechslungsreich aufgebaut und beinhaltet sowohl Balladen als auch Songs, die nach vorne gehen wie zum Beispiel „Ich brech aus“. Auf „Zimmer 438“ behandeln Tokio Hotel mit ihren Texten Themen, mit denen viele junge Heranwachsende konfrontiert werden. Liebeskummer, Verzweiflung, Orientierungslosigkeit. Ich ziehe trotzdem meinen Hut, für das was sie für ihr damals noch junges Alter alles erreicht haben.