Kolumne

Kendrick Lamars „To Pimp A Butterfly“: Wie Jazz den Hip-Hop entfesselte

Der Charakter von Rap-Musik zeichnete sich jahrzehntelang durch die Arbeit mit manisch-loopenden Beats aus, die eher den Text und weniger das Instrumental in den Vordergrund stellten. 2015 erreicht Kendrick Lamar mit seinem Meilenstein „To Pimp A Butterfly“ den vorläufigen Höhepunkt einer Spielart von Hip-Hop, die musikalisch komplexer denkt. Ein wichtiger Akteur in dieser Mission: die archaische Gewalt des Jazz‘.

Dem US-amerikanischen Rapper Kendrick Lamar ist in den letzten Jahren ein beeindruckender Stunt gelungen, der in der Musik oder in der Popkultur generell nur selten gelingt: Er ist innovativer geworden, obwohl sein Erfolg gleichzeitig immer größer wurde. Solche Ereignisse sind – trotz der verfälschenden Romantisierung einer „guten alten Zeit“ – damals wie heute äußerst rar geblieben. In den 70ern waren Pink Floyd mal etwas, was Lamar heute für den Rap ist, aber generell scheint sich genialer Geist meist erst zu entfalten, wenn kommerzielle Formungen nicht mehr dauernd versuchen, den kreativen Prozess zu stören. Der Jazz ist dafür ein verdammt gutes Beispiel: Was sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst als massentauglicher und gefälliger Schlager einen Namen machte, wurde mit dem Siegeszug des Rock’n’Rolls und dem damit einhergehenden Mainstream-Verschwinden des Genres zu einem immer anspruchsvolleren und verkopfteren Spielplatz für Musiknerds und Akademiker:Innen. Was früher eine jugendkulturelle Bewegung war, wird heute vor dem selben elitären Publikum aufgeführt, das sich auch an Mozart und Beethoven erfreut.

Schon diese Geschichte kann deswegen eigentlich sehr pointiert darstellen, für was Kendrick Lamars „To Pimp A Butterfly“ im Jahr 2015 stand. Das dritte Studioalbum des Rappers lässt die Freiheit des Jazz‘ in jeder Note aufflammen. Dafür hat Lamar ein beeindruckendes Ensemble zusammengestellt, das auf der Platte seine kollektive Klasse unter Beweis stellt. Der US-amerikanische Saxophonist Kamasi Washington ist auf „U“ in voller Blüte zu hören, auch der Grammy-nominierte Ambrose Akinmusire spielt im Closer „Mortal Man“ Trompete. Die freimütigen Instrumentals des Albums scheinen eines unmissverständlich klar zu machen: Mit seinem Zugriff auf eine musikalische Welt, die von Elitarismus und gehobenem Publikum geprägt ist, will „To Pimp A Butterfly“ nicht das Rap-Album für den kleinsten gemeinsamen Nenner sein. Diese Platte hat den Anspruch, hohe Kultur zu verkörpern, Musik weiterzudenken.

Der größte Kunstgriff der Platte bleibt aber wohl trotzdem, dass sie in ihrem Anspruch nicht zu verkopft bleibt, sondern den immer unerreichbarer anmutenden Jazz gleichzeitig etwas auf den Boden der Tatsachen zurückbefördert. Lamar reflektiert auf „To Pimp A Butterfly“ über seinen Werdegang als Künstler, sein Bereuen auf dem Weg nach oben und diskutiert am Ende sogar mit einem aus Interview-Schnipseln auf Platte gebannten Tupac Shakur dessen Rolle als Künstler und gesellschaftliche Figur. Gleichzeitig schafft Lamar aber auch mit „The Blacker The Berry“ eine der wohl eindringlichsten Anti-Rassismus-Hymnen aller Zeiten, die gerade dadurch so markerschütternd wird, dass sie in aller Wut ein Problem reflektiert, das nicht nur eine gehobene soziale Klasse betrifft. Und obendrein bleibt „To Pimp A Butterfly“ trotz aller wilden Soli, trotz aller fulminanten Rhythmuswechsel und trotz Verrücktheiten wie dem musikalisch wild untermalten Gemecker einer zeternden Frau im Interlude „For Free?“ unglaublich genießbar. Songs wie „Alright“, „King Kunta“ oder „These Walls“ sind einfach Hits.

Kendrick Lamar gelingt mit diesem Werk somit ein schwieriger Spagat: Er öffnet den Rap einer musikalischen Welt, die mit der Underground-Attitüde und der ungefilterten Sprache des Genres eigentlich kaum zu vereinen schien und schafft es so trotzdem, ein Gesamtprodukt zu erzeugen, das für Fans beider Welten spannend ist. Den größten Verdienst könnte „To Pimp A Butterfly“ allerdings für seine ursprüngliche klangliche Heimat tragen, denn es schlägt die Brücke zu einem Hip-Hop, der sich instrumental und strukturell verdammt viel traut und der so eine ganz neue musikalische Ebene erzeugt. Es sei nicht gesagt, dass Kendrick Lamar diesen Ansatz mit seinem dritten Album erfunden habe. Schon auf dem Vorgänger „Good Kid, m.A.A.d. City“ zeigt sich der Mut zu waghalsigen Struktur-Experimenten und auch etwa ein Kanye West hat Hip-Hop nicht mehr als Sprechgesang über den Beat verstanden, der sich lediglich in Verse und Hook unterteilen lässt. Aber „To Pimp A Butterfly“ treibt das Ideal einer ungezwungenen Struktur eben so weit, dass es diese gerade aus der Musikrichtung gewinnt, die sich in den späteren Jahren ihrer Entwicklungsgeschichte besonders durch die Lösung von allen möglichen Formen auszeichnete und spätestens mit Erreichen des Free Jazz‘ der musikalischen Anarchie die Tür öffnete. Kendrick Lamar stellt die Frage ganz neu, was Hip-Hop eigentlich als Musik sein kann.

Beeindruckend, dass Lamar dabei trotzdem noch ein ebenso komplexes lyrisches Narrativ vorantragen kann, das aber vielleicht auch sinnbildlich für die klanglichen Ideale des Albums steht. „To Pimp A Butterfly“ hat keine fortlaufende Handlung, aber hangelt sich an einem Gedicht entlang, das Lamar zwischen den Songs immer wieder vorliest und bei dem er jedes Mal ein paar Verse weiterkommt. Aus den neuen Zeilen entstehen dann in den jeweils nachfolgenden Songs die Geschichten. Aus wenigen Worten werden ganze Themenkomplexe abgleitet und fortgesponnen, die noch viel weiter gehen. Auch in dieser Erzählweise liegt eine Eigenart des Jazz: Aus ganz kleinen Dingen entstehen viel größere Melodien, musikalische Momente und Erlebnisse, die sich kontinuierlich fortspinnen, immer wieder neue Richtungen einschlagen und bisweilen völlig freidrehen.

„To Pimp A Butterfly“ hat trotz seines Erfolgs und seiner durchweg verehrenden Rezeption keine Heerschar an Rap-Jazz-Platten nach sich gezogen. Die Verdienste dieses Albums liegen viel tiefer: Kendrick Lamar gelang es, durch die Sprache des Jazz dem Rap zu zeigen, wie frei sich Songs im Hip-Hop entfalten können und warum diese Musik das Potential hat, entgegen aller missmutigen Rock-Nostalgiker die klanglichen Revolution des frühen 21. Jahrhunderts anzuzetteln. Das hat nicht nur Rapper, sondern auch andere alteingesessene Pop-Heroen beeindruckt. Produzent Tony Visconti erzählt über David Bowies Meisterwerk „Blackstar“, es sei inspiriert von „To Pimp A Butterfly“: „Wir liebten es, dass Kendrick so offen war und nicht einfach nur ein Hip-Hop-Album gemacht hat. Er hat alles darauf geworfen, und genau das wollten wir auch tun.“