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Kendrick Lamar und „Mr. Morale & The Big Steppers“: Pulitzer-Kenny’s Revenge

Kendrick Lamar hat als erster Rapper überhaupt den Pulitzer-Preis bekommen – aber für das falsche Album. Was macht das mit einem Künstler?

Dass Kendrick Lamar mittlerweile die Gallionsfigur einer progressiven Rap-Avantgarde in den USA geworden ist, die obendrein auch noch mitten im Mainstream stattfindet, ist kaum noch einen Zweifel wert. Lamar hat alles erreicht: Seine Musik wird von Kritikern wie von der großen Masse geliebt – ein sehr seltener Spagat. Und dass „Damn“, der bisher letzte Streich des Künstlers, die Ehrenwürde des Pulitzer-Preises überreicht bekommen hat, war eine derartige Krönung, dass Lamar es sich nicht hat nehmen lassen, auf seiner Tour zum Album in seine Bühnenshow die Videoprojektion „Pulitzer Kenny“ einbauen zu lassen.

Nur darf man fragen: War „Damn“ eigentlich wirklich die Platte, die für die Entwicklung des Hip-Hops so manifest war, dass sie als ein solcher Meilenstein gewürdigt werden müsste? Schließlich hatte Lamar eigentlich auf seinem dritten Album ein maßgebliches Rap-Opus veröffentlicht, nach dem kaum noch etwas Äquivalentes kommen konnte. Bei „To Pimp A Butterfly“ hatte unter so vielen Faktoren vor allem die Originalität der jazzgestylten Beats herausgestochen, die sich weit über das Stilmittel des Loops hinweg emanzipiert hatten und eine ganz eigene Organik entwickelten – „Damn“ wirkte im Vergleich dazu geradezu Rap-retrospektiv. Und so sehr man die Großartigkeit auch dieser Platte nie unterschätzen durfte, so ist doch die Frage, ob der freidrehende Lamar sich nach einem der beeindruckendsten Genre-Ausflüge aller Zeiten nicht auch wieder etwas stärker seinen lyrisch-narrativen Stärken zuwandte.

Über fünf Jahre später steht nun final der Nachfolger vor der Tür und ist der vielleicht bestmögliche Mittelweg, den beide Vorgänger vorgeebnet hatten. Diese Aussage soll keineswegs die Suggestion eines Kompromisses herstellen. Vielmehr findet „Mr. Morale & The Big Steppers“ eine scharfe Synthese zwischen den eigentlich sehr gegensätzlichen Ansätzen von "Damn" und "To Pimp A Butterfly". Die Songs selbst sind wieder stärker durchkomponiert, aber statt der großen übergreifenden Dramatik, die „To Pimp A Butterfly“ seinem Gesamtverlauf noch durch den Konnex eines immer wieder erweiterten Gedichts vorangestellt hatte, arbeitet Lamar auf seiner neuen Platte einerseits mit Kontrasten, die aber anderseits durch die Verbindung thematisch-musikalischer Leitmotive verknüpft werden. Dies äußert sich zum Beispiel in „We Cry Together“, einem theatralisch inszenierten Beziehungsdisput, der mit den Geräuschen von schnellen klackenden Schuhen auf Parkettboden und den Worten „Stop tap dancing around the conversation“ endet. Dieser so nun thematisch gebundene Soundeffekt erklingt auf dem Album immer wieder in anderen Kontexten. Gleichzeitig trägt „Mr. Morale & The Big Steppers“ schon im Titel die Idee einer als Doppelalbum angelegten Platte mit sich, die auf ihren beiden Hälften zwei verschiedene Narrative gegenüberstellt – auch so eine Konzeptform, die mittlerweile fast schon wieder vergessen war.

Passend zum wieder organischer klingenden Kompositionsdesign sind die Beats auf Kendrick Lamars fünftem Album insgesamt wieder deutlich weniger technisch und dafür akustischer geraten. Brillieren tut dies vor allem in den emotionalsten Momenten der Platte. Der Opener „United In Grief“ ist ein unfassbarer Anfangspunkt, der über Klavier und Streicherteppichen einerseits tragend, durch die rasante Perkussion aber anderseits auch manisch rasend wirkt. Diese eröffnende Zwiespältigkeit erweist sich als bezeichnend für den gesamten Restverlauf der Platte. Da gibt es das ergreifende „Mother I Sober“, das textlich derartig direkt und tief blicken lässt, dass man sich fast in ein Touché-Amoré-Album versetzt fühlt. „N95“ dagegen badet tief im Fly-High aktueller Trap-Stilmittel, ohne dabei so technisiert zu wirken wie ein Großteil der Szene.

So schließt sich um „Mr. Morale & The Big Steppers“ ein befriedigendes Resümee. Ist es das Kendrick-Album, das man nach fünf Jahren erwartet hat? Schwer zu sagen, wenn man einen Künstler vor sich hat, der Erwartungen eigentlich konsequent bricht. Ist „Mr. Morale & The Big Steppers“ besser als sein Vorgänger? Ja. Ist es ein neues „To Pimp A Butterfly“? Mit Sicherheit nicht. Aber Kendrick Lamar schreibt Musik, in der man baden, träumen, trauern, wütend schnauben und liebend abgehen kann. Mehr erreichen will man doch eigentlich kaum.

Fazit

8
Wertung

Krasse Highlights und viele tolle Ideen. Ein Album, in dem man graben muss.

Jakob Uhlig
8
Wertung

Ich glaube, Kendrick Lamar kann mich nie wieder so aufwühlen, beeindrucken, schlicht wegpusten, wie mit "To Pimp A Butterfly". Ich glaube aber auch, dass er niemals ein Album machen wird, das mich nicht irgendwie aufwühlt, beeindruckt, und berührt. "Mr. Morale & the Big Steppers" ist eine unfassbar dichte, durchdachte und schlaue musikalische Reise durch die Psyche und Gedanken eines Mannes, dessen Lebensrealitäten und Geschichte ich niemals so nachvollziehen könnte, wenn er nicht so wahnsinnig gut davon erzählen würde.

Kai Weingärtner