Ein bisschen verblüfft bin ich bei dieser Kategorie in den letzten Jahren immer gewesen: 2020 und 2021 habe ich an dieser Stelle jeweils ein britisches Jazz-Album zum Sieger gekürt. Meine letzte Platte des Jahres, die noch unter die Kategorie meiner ersten Liebe „Rock“ fällt, war Kora Winters „Bitter“ 2019. Nun schreiben wir 2022, das Jahr, in dem das erste Mal seit fünf Jahren eine neue Fjørt-Platte erschienen ist – eine Band, die mit eigentlich egal welchem Release immer diskussionslos meine Pole Position einholen konnte. Und so völlig überragend – für mich fast schon überraschend fantastisch – „Nichts“ auch geworden ist, so komme ich bei allen finalen Hörduellen doch nicht umhin, Kendrick Lamars „Mr. Morale & The Big Steppers“ zu meinem Album des Jahres zu küren. Lamars Musik verehre ich, seit mich Ex-Redaktionskollege Julius 2017 in die Welt von „To Pimp A Butterfly“ einführte – aber dass seine neue Platte derartig hoch bei mir landen würde, hat mich doch überrascht. Immerhin war „Damn“ von 2017 mir in der Summe doch nicht vielschichtig genug. Was aber Lamars neuer Doppelstreich anbietet, hat mich zutiefst ergriffen. „United In Grief“ dürfte ohne Weiteres als einer der besten Opener der letzten Jahre in Erinnerung bleiben, „Mother I Sober“ ist so offenbarend wie ein Touché-Amoré-Track, „Mr. Morale“ ist einer der härtesten Banger des Jahres. Und dann ist da noch „We Cry Together“, ein Track, dessen Konzept auf dem Papier ganz viele hervorragende Potentiale für abgrundtiefe Fremdschämmomente böte: Ein fast schon musicalartiges Duett nicht mit einer Rapperin, sondern einer Schauspielerin, die gereimte musikalische Darbietung eines Beziehungsstreits, der schließlich ins Vögeln der Partner:innen mündet – alles dabei, um meine Geschmacksalarmglocken ohrenbetäubend laut rasseln zu lassen. Aber Taylour Paige überragt mit ihrer erschreckend realistisch klingenden Ekstatik sogar die Performance eines der besten Rapper unserer Zeit und das Bild eines toxischen Verhältnisses wird mit unheimlicher Tragik gezeichnet. So wird aus alledem plötzlich der Song des Jahres – völlig unangefochten. Es sind nur Schlaglichter, die ich hier in diesem hochkomplexen, genial austarierten und wahnsinnig vielfältigen Meisterwerk Lamars andeuten kann, aber sie zeigen, warum „Mr. Morale & The Big Steppers“ unbedingt an dieser Stelle stehen muss. Den Award für die mieseste Rezension des Jahres vergebe ich gleichzeitig noch an mich selbst, weil mein erster Blick auf diese Platte mir im Nachhinein beschämend oberflächlich vorkommt. Nehmen wir es als gemeinsamen Appell, uns 2023 alle mal mehr Zeit für so hervorragende Alben zu nehmen.