Kolumne

Wie Dieter Bohlen den Komponisten salonfähig machte

Dass Sänger:innen die Songs anderer Komponist:innen aufnehmen, ist in der Popmusik Usus – nur soll dies nach Möglichkeit keiner wissen. Doch Deutschland sucht den Superstar macht alles anders. Ist das die Neu-Etablierung des Songwriters?
Dieter Bohlen

Foto: TVNOW / Stefan Gregorowius

Im Jahr 2000 veröffentlichte der Rapper Mad Skillz einen Song namens „Ghostwriter“, in dem er sich öffentlich dazu bekannte, Hits für andere Künstler geschrieben zu haben. Donnie Shaquan Lewis, so sein bürgerlicher Name, hatte den Track nach eigenen Angaben gemacht, um Tantiemen einzufordern, die ihm für das geistige Eigentum bekannter Songs zustehen würden. Der Clou: In der dritten Strophe lässt Lewis eigentlich die Namen von denjenigen erklingen, die ihn angeblich um seinen Anteil geprellt haben – allerdings sind alle Personennamen in dem Song zensiert. So war der Track auch als Drohung zu verstehen, nach der die Identitäten veröffentlicht werden könnten, wenn Lewis seinen verdienten Anteil nicht erhalten würde. Tatsächlich hat der Rapper den Song bei einem Konzert sogar einmal unzensiert wiedergegeben – und damit offenbart, dass unter anderem Will Smith und Puff Daddy zu seinen Kunden gehörten. Dass Lewis überhaupt in die Position kam, mit der Offenbarung seiner Songwriter-Aktivitäten zu drohen, zeigt nicht nur eine augenscheinlich unfaire Bezahlkultur in der Branche, sondern sagt auch etwas über die Vermarktung von Musik in der Popwelt aus: Künstler:innen wollen so wirken, als hätten sie ihre Songs selbst geschrieben.

Dabei ist es eigentlich eine mehr als gängige Praxis der Musikindustrie, sich von außen helfen zu lassen. Als Panic! At The Disco zum Beispiel 2018 ihren Megahit „High Hopes“ auf die Massen losließen, war daran nicht Brendon Urie allein, sondern insgesamt neun Komponist:innen beteiligt – die Verantwortlichen für den Text noch gar nicht mitgezählt. Es ist ja auch kein Wunder: Popsongs sollen Zeichen von Identifikation sein. Sie sollen uns etwas über den Menschen erzählen, der da gerade auf der Bühne steht, wir sollen das Gefühl haben, ihm nah zu sein und ihn verstehen zu können. Da wäre es ja fatal, wenn man wüsste, dass Justin Biebers Single „Lonely“, in der das Pop-Idol so viel Persönliches über seine Gefühle als junger Musiker erzählt, als Hauptsongwriter Billie Eilishs Bruder Finneas in den Credits stehen hat. 2017 hatte Mark Forster mal ein Gespräch mit Planet Interview nicht zur Veröffentlichung freigegeben, in dem es auch um die langen Credits in seinem Album-Booklet geht – dabei hatte der Künstler an anderer Stelle immer wieder beteuert, alles selbst zu schreiben.

Das Image des Komponierenden hat offenbar einen Wandel erfahren. Wer im Musikunterricht ein wenig Grundwissen angesammelt hat, der weiß, dass nicht immer alles so war wie heute. Früher musste derjenige, der Musik schrieb, nicht auch automatisch ihr Performer sein. Klar, auch Mozart wurde gerade im Kindesalter von seinem Vater als musikalisches Wunderkind bei Auftritten groß in Szene gesetzt. Aber heute erinnern wir uns an ihn trotzdem in erster Linie als Komponisten, nicht als Pianisten. Früher waren die Schreibenden die ganz Großen der Musik. Claude Debussy war am Klavier schlussendlich erfolglos, aber seine Fähigkeiten als Komponist sind trotzdem unvergessen und haben den französischen Impressionismus federführend geprägt. Doch in der Popkultur ist die Ikonisierung scheinbar eine andere. Der Superstar von heute muss immer alles gleichzeitig können – performen und seine eigene Musik schreiben. Das betrifft sogar die Orchesterkomponisten von heute: Ludovico Einaudi sitzt bei den Darbietungen seiner Musik immer selbst am Flügel – und böse Zungen fragen bereits, ob seine Kunst überhaupt überdauern wird, wenn der Maestro selbst eines Tages das Zeitliche segnet.

Unter all diesen Umständen dürfte ein Format wie „Deutschland sucht den Superstar“ eigentlich nie funktioniert haben. Kernkonzept der Sendung war – wie in fast allen Castingshows – die Suche nach einem Sänger und nicht nach einem Songschreiber. Durch die Castings und Mottoshows hinweg singen die Kandidat:innen Coversong um Coversong, ohne auch ihre Songwriter-Fähigkeiten unter Beweis stellen zu können. Es ließe sich einerseits argumentieren, dass Coverversionen auch in den Maßstäben der Popkultur noch ein akzeptiertes Gut sind, wenn die Ursprungsversionen klar benannt und bekannt sind. Dass dann in den Finalshows von DSDS allerdings Siegersongs angeboten werden, die ganz offensichtlich nicht von denjenigen stammen, die da vorne gerade singen, ist schon außergewöhnlicher. In den ersten Staffeln der Show performten die Finalteilnehmer:innen sogar jeweils ihre Interpretation des selben Songs, der Sieger oder die Siegerin durfte diesen dann schließlich als seine Debütsingle veröffentlichen. Dass weder Alexander Klaws noch Juliette Schoppmann 2003 „Take Me Tonight“ geschrieben hatten, ist nicht nur deswegen klar. Tatsächlich geht DSDS sogar regelmäßig ganz offen damit um, dass die Siegersongs aus der Feder Dieter Bohlens stammen. Wie kann es sein, dass so etwas gerade in den ersten Jahren der Sendung mit gigantischen Erfolgen belohnt wurde? Alle anderen Vorzeichen des Zeitgeists scheinen schließlich dagegen zu sprechen.

Die Antwort ist bei Dieter Bohlen selbst zu suchen. Bohlen hat sich in seinen nunmehr 18 Jahren als Chefjuror bei DSDS mit seinem derben Charakter einen derartigen Namen gemacht, dass ihn auch diejenigen kennen, die von Modern Talking noch nie etwas gehört haben. RTL wird nicht müde, seinem Aushängeschild das Prädikat „Poptitan“ aufzupressen und generell steht Bohlen in der Show oft mehr im Mittelpunkt als die allermeisten seiner Kandidat:innen. Das betrifft vor allem den langfristigen Erfolg: Die meisten „Superstars“ sind spätestens zur Folgestaffel wieder vergessen, Bohlen aber hat sich durch die Sendung eine zweite Karriere aufgebaut, in der er der Hauptdarsteller ist – und das, obwohl er selbst nicht auf der Bühne steht, sondern entweder den Experten mimt oder eben als Songwriter agiert. Dieter Bohlen hat sich als zentrales musikalisches Gremium, als Figur mit besonderem Charakter und als Persönlichkeit mit außerordentlichen Erfolgen einen derartigen Markenkern geschaffen, dass ein „Bohlen-Song“ tatsächlich als Prädikat funktioniert. Es ist vielleicht auch dadurch zu erklären, dass die Popsternchen selbst selten eine große Karriere hingelegt haben – denn in Wahrheit ist es immer nur Bohlens Ruhm, der überdauert. Der einzige „Superstar“ seiner Show ist er selbst.

Das muss gar nicht heißen, dass ein von Dieter Bohlen geschriebener Song so derartig gut ist, dass man ihn qualitativ in den Himmel lobt. Im Gegenteil hatte Bohlen in seiner Zeit bei DSDS immer wieder auch mit Querelen um sein generisches Songwriting zu kämpfen. Alexander Klaws Siegersong „Take Me Tonight“ wird so zum Beispiel zum Paradeexempel für ein Plagiat, weil Vorwürfe laut werden, Bohlen habe den Track von Domenico Modugnos „Ciao Ciao Bambina“ gestohlen. Ähnliches wiederfährt Bohlen, als Mehrzad Marashi 2010 die siebte Staffel der Show gewinnt und eine Kontroverse entsteht, nach der der Siegersong „Don’t Believe“ etwas zu stark von Leona Lewis‘ „Bleeding Love“ inspiriert worden sein könnte. Nur: Es ist besonders, dass im Zuge dieser Streitigkeiten immer Dieter Bohlen im Mittelpunkt stand und niemals Marashi oder Klaws. Man könnte sagen: Der Künstler Dieter Bohlen ist umstritten, aber er wird eindeutig als Künstler wahrgenommen. Vielleicht ist Dieter Bohlen gerade deswegen der letzte große Songwriter unserer Zeit, dem es gelungen ist, allein durch diesen Status ein allgemein bekanntes Idol zu werden.

Anfang 2021 gab RTL bekannt, dass Dieter Bohlen in den folgenden Staffeln von DSDS nicht mehr dabei sein wird – eine Zäsur für die Sendung, die fast ihr gesamtes Dasein lang von den Zoten ihres Chefjurors gelebt hatte. Es wird spannend sein zu sehen, was dieser Einschnitt für die Sendung und auch für Bohlen bedeuten wird. Wird DSDS endgültig in der Bedeutungslosigkeit versinken, weil das wichtigste Aushängeschild nun fehlt? Wird die Show eine Castingshow mit ganz anderem Image werden, in der die Sieger:innen noch mehr als vollständige Popstars im Mittelpunkt stehen? Wird sich eine andere Person einen Status erarbeiten, wie Bohlen es konnte? Und was ist mit Bohlen selbst – wird er sein fast über zwei Jahrzehnte aufgebautes Image als Popmacher weiter pflegen können, oder wird es sich mit seinem Ausscheiden aus der Sendung in Rauch auflösen? Die Zukunft ist ungewiss – aber es bleibt die Erinnerung an einen umstrittenen Mann, der die Industrie wie kein Zweiter durchschaut hat.