Reviews

Steven Wilson und "The Future Bites": Eine Zielgruppenbetrachtung

Es mag nach schnödem Mammon klingen, doch das Bewusstsein, welche Zielgruppe man mit seiner Musik ansprechen möchte, gibt richtungsweisende Aufschlüsse für den Aufnahme- und Produktionsprozess. Dass Steven Wilson über schier endlose Begabung verfügt, ist unstrittig. Doch wie unstrittig ist seine Fähigkeit, die Herzen der Fans (und welcher Fans im Besonderen) zu erreichen?

Selbstverständlich kann man im Rahmen pseudo-individueller Stellungnahmen behaupten, die einschlägige Rezeption aktueller Studiowerke sei einem völlig gleich und man musiziere rein zum Zwecke der Selbstverwirklichung. In diesem Falle darf es stets ein Effekt, eine Tonart und ein Rhythmuswechsel mehr sein. Doch ehrlichweise sind sich speziell massen- und medienwirksame Musiker*innen (oder ihr jeweiliges Management) durchaus bewusst, was ihre ureigene Fanbase von Ihnen erwartet. Zu Beginn des kreativen Schaffens schwingt immer auch die Frage mit, wen man unter Zuhilfenahme welches Mediums in welcher Art und Weise erreichen möchte. Bespricht man nun eine Platte erst nach dem offiziellen Erscheinungsdatum, so ist dies kaum vorteilhaft. Die ersten (und damit oftmals auch die lautesten) Meinungen sind bereits omnipräsent und geben dem Werk einen Vorgeschmack. Bei „The Future Bites“ weicht Steven Wilson scheinbar recht stark von dieser hiesigen Erwartungshaltung ab, sodass sich ein detaillierter Blick nahezu aufdrängt.

„Unself“ verkörpert den sagenumwobenen Startschuss in ein fragmentiertes Album. Dessen abruptes Ende geht nahtlos in die Antithese des Openers („Self“) über. Es ereignet sich eine undurchschaubare Mischung aus fragwürdigem Elektro-Pop, welche allerdings fortwährend mit interessanten Stilelementen aufgehübscht wird. Das ist alles andere als benutzerfreundlich, aber kann man von einem virtuosen Autodidakten dieser Größenordnung Stromlinienform erwarten? „Man Of The People“ bewegt sich auf einer Wolke aus vornehmer Blässe. Ecken und Kanten wurden abgeschliffen, es bleiben Gesangsspuren, die nur haarscharf an der nervlichen Belastungsgrenze vorbeischlittern. Nur weil man hohe Tonlagen bedienen kann, sollte man dies nicht zwangsläufig auch tun. Gleiches gilt für den „King Ghost“, sodass die musikalischen Tiefschläge auch recht zügig abgefrühstückt sind.

Zeit für positives Umdenken! Und ebenjenes liefert Steven Wilson in Form von „Personal Shopper“. Dieser Track opfert sich geradezu für die internationalen Tanzflächen. Nachdem man sich im C-Teil in handverlesenen Headlines und Pressesprecherstimmen (?) verliert, macht sich gegen Ende ein klangliches Bild breit, welches Linkin Parks umstrittenem Konzeptalbum „A Thousand Suns“ dankenswerterweise sehr nahekommt. Großes Kino im Single-Format. Der „Follower“ ist weit weniger revolutionär als so manch vorgenanntes Stück, und liefert auch postwendend ein harmonischeres Bild ab. Weniger Anspruch, bessere Qualität? Eine bedenkliche Gleichung, die hier aufzugehen scheint. „12 Things I Forgot“ geht recht geradlinig zu Werke und erinnert an Coldplay zu Beginn der Jahrtausendwende. Nicht bahnbrechend, aber überzeugend. Bei „Eminent Sleaze“ paaren sich psychedelische Klangfarben mit stimmungsverstärkenden Chören, während diese Mischung von elektronischen Beats über die Spielzeit 4,5 Minuten getragen wird. Dezent eingestreute Gitarrenbrände sorgen für die nötige Abwechslung. „Count Of Unease“ beschließt den Spannungsbogen und orientiert sich in dessen Grundausrichtung am Opener.

Auch nach Ablauf der gesamten Spielzeit kann nicht abschließend geklärt werden, ob man nun Dream Theater oder ABBA referenziert. Während es sich bei beiden Gruppen um unbestrittene Großformate handelt, sind auch die Unwägbarkeiten im Kleinformat groß. Es entsteht kein stimmiges Gesamtbild und Licht und Schatten stehen in einem immerwährenden Wettstreit. Ein denkwürdiges Album, das sicher eine Weile nachhallen wird.

Fazit

5.3
Wertung

Meine bisherigen Berührungspunkte mit Steven Wilson waren durchaus überschaubar, weshalb diese Platte das Tor zu einer völlig neuen Welt hätte verkörpern können. Hätte. Die Klinke ist gedrückt, das Türblatt bleibt (vorerst) an Ort und Stelle.

Marco Kampe
4.8
Wertung

Musikalisch überladen und inhaltlich mager. Gut, das waren Steven Wilsons Vorbilder auch schon. Aber es ist geradezu ironisch, dass Progressive Rock, der den Fortschritt und das Experiment mit neue Ideen schon im Namen trägt, so zum Selbstzitat geworden ist.

Steffen Schindler