Insgesamt scheinen Kettcar ihre kreative Pause auch zur Weiterentwicklung ihres Sounds genutzt zu haben. Sie haben ein anspruchsvolles Album arrangiert, bei dem es kein stumpfes Beat-Durchhalten gibt. Sie bieten weitaus mehr als den bloßen Wechsel zwischen Strophen und Refrain und begeistern mit ausgeklügelten Bridges, rahmenden In- & Outros, unerwarteten Rhythmusbrüchen und starken harmonischen Stimmungsschwankungen innerhalb der Songs. „Trostbrücke Süd“ stellt sich als besonders eigenwilliger und fesselnder Song heraus. Schwermütig werden die traurigen Schicksale einzelner Individuen besungen, die allesamt mit dem öffentlichen Nahverkehr durch die Stadt fahren. Brüchiger Gesang setzt ein, um nach wenigen Takten von einer ruhigen Akustik-Gitarre getragen zu werden. Ein leises und sanftes Schlagzeug ergänzt den Sound wenig später. Der Refrain wird umgekehrt und stellt die Instrumentalmusik mit einer eingängigen Melodie in den Vordergrund, die während des Songs wiederkehrt und weiter ausgebaut wird. Nach beinahe drei Minuten entsteht Stille, die sich nicht als das Ende des Songs, sondern als Innehalten entpuppt, um dem melancholisch-traurigen Stück eine andere Wendung zu geben. Ein erhabener und tröstender Chorgesang steigert sich mit der Wiederaufnahme des eingängigen Instrumentalparts zum großen Finale und der Feststellung: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser!“. Kettcar sind sich unverkennbar treu geblieben und schaffen es noch immer, die Balance zwischen lauteren und leisen, getragenen Tönen und Klängen zu halten, ohne dabei in Kitsch oder gekünstelten Pathos zu verfallen.
Gerahmt wird das Album von menschlichen Lichtblicken. Im ersten Song besingen Kettcar die Synergie der herrschenden Diversität und man wird Zeuge, wie sich die als unerträglich empfundene Menschheit in der „Ankunftshalle“ des Flughafens zu liebenswerten Individuen verwandelt. Aus der Meute werden „unsere Leute“ und die geteilten Umarmungen und herzlichen Begrüßungen der verschiedensten Menschen erhellen die Laune der Beobachtenden.
Am Ende des Albums machen Kettcar noch einmal Mut, und Hooklines wie „von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“ bleiben im Kopf und tragen einen durch den Alltag, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Sie ermutigen uns, Werte wie Solidarität, Menschlichkeit und Empathie hochzuhalten, standhaft zu bleiben und diese Haltung im eigenen Umfeld aktiv zu leben. Niemand muss die gesamte Welt alleine retten oder sich jedem Problem der Gesellschaft gleichermaßen annehmen. Das können auch Kettcar mit ihrem Album nicht. Aber jeder muss nach seinen Möglichkeiten für das Gute einstehen und sich darauf besinnen, dass ein Ich erst im gemeinsamen Wir die Welt verbessern kann.