Konzertbericht: Karies in Hamburg

Wer an deutsche Post-Punk-Bands denkt, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit als erstes auf Die Nerven. Karies belegen heute im Molotow, dass ihr Name genauso schnelle Assoziationen verdient hätte.

Und das nicht nur, weil das Quartett mit Max Rieger als Produzenten und Schlagzeug-Beteiligungen von Kevin Kuhn und Julian Knoth mit allen drei Mitgliedern der deutschen Genre-Primussen verwandt ist, sondern auch, weil ihre Songs auf einem breit gefächerten Markt ihre ganz eigene Nische vertreten. Dass die Band sich dabei zunehmend vom Noise wegbewegte und auf „Alice“ vielmehr die vertrackt-unterkühlte Seite der Neuen Deutschen Welle zelebrierte, half ihrer musikalischen Alleinstellung ungemein, ist am heutigen Abend im Hamburger Molotow aber gar nicht so relevant. Denn live wollen die Songs von Karies anders gefühlt werden und schütteln lieber direkt, als subtil zu greifen. Das ist nicht als Verlust im Vergleich zur Platte zu betrachten, sondern vielmehr als markerschütternde Emotionsgewalt auf anderer Ebene.

Diese gewinnt in Form des Support-Acts Pigeon noch vor dem Auftritt des Headliners an Kontur. Das Trio klingt mit seinem kruden Noise-Punk eher nach den brachialeren Karies auf „Seid umschlungen, Millionen“ und scheinen deswegen viele Herzen im stetig dichter besetzten Molotow zu erobern. So gibt es nicht nur bereits erste Mini-Moshpits, sondern sogar für eine Vorband ungewöhnliche Rufe nach einer Zugabe, die das Trio prompt erhört. Die Band bleibt dabei so eiskalt wie ihre aggressiv-sterile Musik und verabschiedet sich neben einem Gruß an die Hauptband des heutigen Abends nur mit einem äußerst knappen „Danke“. Übel nimmt ihnen das keiner – im Grunde sind ja alle gerade hergekommen, um sich zu solch kruder Attitüde die Seele aus dem Leib zu tanzen.

Pigeon

Pigeon

Karies schließen sich dem sogleich auf unerwartete Weise an. Das eigentlich zart-sanfte „Holly“, das auch schon die aktuelle Platte der Band einleitete, knarrt als Live-Opener viel martialischer als in der Studioversion. Die subtilen Begleit-Vocals aus der aufgenommenen Version lässt das Quartett lieber gleich weg, die melodischen Gitarrenparts gehen im Mix beinahe ein wenig zu sehr unter, der Fokus liegt vielmehr auf der martialischen Basslinie, die den Rhythmus des Songs wie ein pulsierendes Erdbeben vorantreibt. Das Ergebnis ist ein schaudernd-packendes Klangerlebnis, das die Band über den gesamten Abend aufrechterhält und entsprechend ein endloses Sound-Erdbeben inszeniert. Die neuen Songs gehen in ihrer Diversität dabei etwas unter, fügen sich dafür aber umso besser in den Gesamtklang der umfänglich bespielten Karies-Diskographie ein. Das Publikum zettelt dazu eine Art Beugtanz-Pogo an, der nur selten wirklich ausbricht, sich aber im monotonen Lärm-Geschwader der Stuttgarter hervorragend anfühlt. Heute läuft eben alles ein bisschen gegen die Regeln – die zahlreichen Flaschen, die am Ende des Auftritts neben den mit „Keine Getränke auf der Bühne“ besprühten Monitor-Boxen stehen, sprechen Bände.

Karies

Karies