Ja, vieles in „To The Bone“ erinnert an die 80er. Cheesy Synthesizer, Drum-Machines und die ersten Gehversuche mit digitaler Produktionstechnik spiegeln sich alle in dem Album wieder. Ja, „Nowhere Now“ ist so kitschig, dass es geradewegs aus einem Phil-Collins-Soundtrack für das neuste Disney-Musical stammen könnte, die Percussions im Titeltrack erinnern klar an Totos „Africa“, und „Permanating“ treibt das alles noch weiter und lädt mit seinem straighten 4/4-Drum-Machine-Beat zum Mitklatschen ein, was in seinem glänzenden Optimismus sowohl an ABBA als auch an The 1975 erinnert. Bei den derzeitigen Rezeptionen von „To The Bone“ könnte man jedoch den Eindruck gewinnen, dass das Album als eine Art Konzeptwerk eine Reise in die 80er unternimmt, ähnlich wie Bruno Mars‘ Motown-Hommage „24K Magic“.
Das ist schlichtweg falsch. Alle genannten Einflüsse sind eben das: Einflüsse. Im Grunde ist „To The Bone“ ein völlig Wilson-typisches, wenn auch für seine Verhältnisse unterdurchschnittliches Werk. Viele könnten es mit der musikalischen Neuausrichtung dennoch schwer haben. Der Brite ist seit jeher als musikalisches Chamäleon bekannt, als Experte in verschiedenen Genres, Kopf der Progressive-Rocker Porcupine Tree, mit seinen Remixes erfolgreicher Erneuerer großer 70er-Jahre-Prog-Bands und produktionstechnischer Nerd. Und so sollte dieses Album auch gelesen werden: ein zeitgenössischer Querschnitt vergangener Jahrzehnte populärer Musik als Grundlage, und vielleicht gerade deshalb das poppigste Album Wilsons, aber darüber unverkennbar der künstlerische Fußabdruck des Meisters, seine musikalische Sicht der Dinge.
„People Who Eat Darkness“ beispielsweise beginnt beispielsweise mit Lo-Fi-70er-Rock (kein glattpolierter 80er Pop), länger als eine gute halbe Minute hält Wilson es jedoch nicht aus und bringt direkt den ersten Harmoniewechsel. Prog? Vielleicht. „Detonation“ dauert über neun Minuten und bricht nach den mystischen, perkussiven Synthie-Bits am Anfang in einer Instrumentalexplosion aus. Ja, die Synthesizer klingen klar nach den 80ern, die langen, sich drehen und wendenden Instrumentalparts samt epischem Gitarrensolo sind jedoch die Spezialität Wilsons, man denke nur an das grandiose „Regret #9“ von „Hand. Cannot. Erase“. Der einzige Unterschied von „To The Bone“ im Vergleich zu früheren Werken ist, dass mehr Wert auf die Virtuosität der Zurückhaltung gelegt wird: Minimalismus, Repetitivität und Atmosphäre überwiegen hier statt der Aneinanderreihung ungerader Taktarten und Zurschaustellung der Fähigkeiten seiner Studiomusiker, wobei auch das hier oft genug passiert. Der Vergleich mit „Hand. Cannot. Erase“ bietet sich an, da Wilson die 80er hier bereits durchgespielt hat, in „First Regret“ inklusive Pop. Letzteren zieht Wilson auf „To The Bone“ selbstredend oft als Stilmittel aus dem Ärmel, öfter als je zuvor: Die Eingängigkeit der Melodien von „Nowhere Now“ ist zum Niederknien, „Pariah“ ist ein tolles, stimmungsvolles Duett mit Ninet Tayeb, die Wilson mit seiner doch recht dünnen Stimme ganz schön alt aussehen lässt.