Kolumne

Was TikTok für die Popmusik bedeutet – und warum früher nichts besser war

Gerade Musikfans, die ihrer Leidenschaft schon seit einigen Jahrzehnten folgen, sind oft gewillt, dem Mainstream mit Pessimismus und Ausverkauf-Vorwürfen zu begegnen. Aber wie viel Einfluss haben neue Marktlücken wirklich auf die Entstehung von Kunst? Entsteht Musik heute tatsächlich viel schematischer als früher? Und ist das überhaupt etwas Schlechtes?
TikTok

Unsere Lieblingssongs lieben wir für die Emotionen, die sie in uns auslösen. Kramen wir aus einem Regal eine unserer alten Platten hervor, beschleicht uns bisweilen wohlige Nostalgie. Musiknerds feiern es inbrünstig, wenn ihrer Lieblings-Progressive-Band ein extravaganter Akkordwechsel gelingt und schreibt ein Singer/Songwriter gute Texte, fühlen wir uns geradezu magisch zu einer Person hingezogen, die wir eigentlich gar nicht kennen. Musik ist Romantik pur. Kaum ein Phänomen fesselt und vereint so viele Menschen weltweit wie das Handwerk der auditiven Kunst. Kaum jemand ist nicht zumindest oberflächlich an Musik interessiert. Der Musikphilosoph Theodor Adorno attestierte unmusikalischen Menschen sogar, ihre Distanz zu dieser Kunstform könne nur mit erheblichen Mängeln in der frühkindlichen Erziehung zusammenhängen. Bei so viel Hingabe zum Musikalischen vergessen wir oft, dass auch die Künstler und Künstlerinnen nicht von Luft und Liebe leben, sondern hinter ihnen eine knallharte Industrie mit stringenten Verkaufsstrategien steckt – und zwar nicht nur bei den absoluten Mainstream-Sternchen, sondern grundsätzlich bei jedem, der ansatzweise versucht, seine Musik unter die Menschen zu bringen.

Dass Markt und die Kunst selbst untrennbar Einfluss aufeinander nehmen, wird von Musikschaffenden wie Fans gerne abgestritten – dass dieses Zusammenspiel existiert, kann mit einem halbwegs realistischen Blick aber kaum verneint werden. Neueste und größte Ausformung dieses Umstands ist die App TikTok – eine Lyp-Sinc-Anwendung, die mittlerweile noch vor WhatsApp das meistgeladene Smartphone-Programm überhaupt ist und weltweit eine Nutzerschaft von über einer Milliarde Menschen erreicht. Das liegt auch daran, dass die App im Gegensatz zu Facebook, Instagram und Co. in China nicht gesperrt ist und damit ein ungleich höheres Marktpotential bietet. Bei TikTok drehen Nutzer Videos von sich selbst, in denen sie zu selbst ausgewählten Songs oder Audioclips tanzen, die Lippen bewegen oder Sketche inszenieren. Was in der Generation Z zum Alltag gehört, ist für ältere Semester bisweilen schwer nachzuvollziehen und so erwischen sich teilweise schon 20-jährige dabei, wie sie über die „Jugend von heute“ lamentieren.

Das hängt wohl auch mit dem maßgeblichen Einfluss zusammen, den TikTok heute auf die Popmusik hat. Geht ein Song auf der Plattform viral, kann das der Startschuss für einen gigantischen Chart-Hit sein. Entsprechend ist es wenig verwunderlich, dass Labels und Musikschaffende diesen Markt gezielt ansteuern – und das beginnt eben nicht erst in der Vermarktung, sondern bereits im Entstehungsprozess eines Songs. Auf TikTok beträgt die üblichste Wiedergabedauer eines Tracks gerade einmal 15 Sekunden – entsprechend müssen für die App funktionierende Tracks dieses kleine Zeitfenster möglichst passgenau füllen. Auch der von den Nutzern eingebrachte Video-Part verlangt nach Kompatibilität. Deswegen schafft die Popindustrie Songs mit Texten, die sich gut in Bilder übersetzen lassen. Der US-amerikanische Rapper Kyle landete mit „Hey Julie!“ so zum Beispiel einen TikTok-Hit, der alle Anforderungen maßgeblich erfüllt: Prägnante Schlüsselworte werden eingängig wiederholt. „Paparazzi sound like flick, flick, flick, flick“, heißt es zum Beispiel im relevanten Part – eine Zeile, die sich perfekt in die Performance mit einer imaginären Kamera umsetzen lässt. Auch Songs, die eigentlich schon längst aus den Weiten der Charts verschwunden waren, werden durch das neue Format plötzlich wieder zu Hits. „Payphone“ von Maroon 5 gehörte 2018 etwa zu den meistgenutzten TikTok-Tracks, obwohl der Song schon im Jahr 2012 erschienen war und in der schnelllebigen Pop-Industrie so definitiv nicht mehr zum aktuellen Kanon gehörte.

Dass Musik auf das jeweilige Format der Stunde angepasst wird, ist definitiv keine Neuheit. Seit Streaming-Portale wie Spotify die CD als primäres Konsummedium abgelöst haben, gerät das Format Album zunehmend in Vergessenheit. Da Nutzer üblicherweise in Playlisten hören, sind einzelne Tracks das Gebot der Stunde. Zwar veröffentlichen eine große Anzahl an Künstlern noch immer Alben, Platten wie das neue Werk von Bring Me The Horizon hören sich dabei aber trotzdem eher wie eine Singles-Compilation als wie ein zusammenhängendes Werk an. Und da man auf Spotify mit Songs erst Geld verdient, wenn sie mindestens dreißig Sekunden laufen, tendieren Künstler dazu, bereits früh mit voller Wucht in einen Track einzusteigen – lange Intros sind für die Skip-Rate schließlich eher schädlich. Aber nicht erst seit dem Internet-Zeitalter ist Musik ein Ausdruck des technischen Zeitgeists. Als Schallplatten ihre Relevanz angesichts der Konkurrenz der moderneren CDs verloren, gehörte das von vielen Liebhabern gemochte Konzept der A- und B-Seiten der Vergangenheit an. CDs eigneten sich aus naheliegenden Gründen eher für zusammenhängende Alben mit einer Maximallänge von 80 Minuten. Genannte Kapazität ist übrigens auch kein Zufall, sondern wurde extra gewählt, weil sich Beethovens 9. Sinfonie auf dem neuen Medium ohne Unterbrechung abspielen lassen sollte.

An diesem Abriss musikalischer Medien-Historie lässt sich vor allem eines feststellen: Dass Songwriter ihre Werke aktuellen Markttrends anpassen, ist kein Phänomen der Neuzeit, sondern ein schon immer vorhandener Faktor. Der einzige Vorteil, den die Welt der digitalen Musikvermarktung heute hat, ist die Verfügbarkeit von noch ausführlicheren und präziseren Daten, die sich etwa aus dem Nutzungsverhalten von Spotify genauestens ablesen und analysieren lassen. Aber gewisse Leitlinien gehören eben trotzdem schon immer zu. Als sich mit Plattenverkäufen noch ernsthaft Geld verdienen ließ und sich der Markt nicht vor allem auf Konzerte konzentrierte, war die Produktivität noch eine ganz andere, die man heute wohlmöglich gar als Ausverkauf interpretieren würde. So veröffentlichten die Beatles in nur sieben Jahren Veröffentlichungshistorie von 1963 bis 1970 sage und schreibe 13 neue Studioplatten. Heute gelten Bands wie King Gizzard & The Lizard Wizard, die noch immer über einen derartig hohen Output verfügen, eher als merkwürdiges Kuriosum.

Man könnte aus diesem Bild nun ein sehr pessimistisches Resultat ziehen. Die Popindustrie hat schon immer ihre Finger in künstlerischen Prozessen im Spiel. Ist also all das, was wir immer so geliebt und verehrt haben, in Wahrheit nur seelenloses Kalkül, dem wir in planloser Leidenschaft verfallen sind? Vielleicht muss man es aber auch gerade umgekehrt sehen. Wenn wir Musik immer toll finden konnten, obwohl dahinter so eine große Maschinerie steckt, dann ist der Einfluss kommerzieller Schemata vielleicht doch gar nicht so dramatisch, wie wir es uns manchmal einbilden. Früher war nicht alles besser – heute ist alles genau so schlecht wie damals. Oder eben gut.