Kolumne

Popmusik: Guilty Pleasure oder ernstzunehnemende Kunst?

Popmusik wird oft Belanglosigkeit vorgeworfen und vor allem von Fans alternativer Musik belächelt. Doch ist das eigentlich fair? Meiner Meinung nach nicht und ich würde euch gern zeigen, warum Popmusik verdammt gut und wichtig sein kann.
knallbuntes Bild mit dem Schriftzug "Now That's What I Call Pop"

Als ich jung war und Punkmusik für mich entdeckte, war klar, dass Popmusik scheiße ist. Glattgebügelte und wertlose Gute-Laune-Musik für persönlichkeitslose Wesen. Die Meinung habe ich immer noch, aber eher, wenn ich an Apres-Ski- und Mallorca-Party-Songs denke. Was Popmusik angeht, habe ich meine Meinung über die Jahre revidiert und höre mittlerweile gerne einige Songs von Ed Sheeran oder Justin Bieber und manchmal sogar Songs, für die ich mich früher sehr geschämt habe. Meine Hauptleidenschaft wird immer der alternativen und eher düsteren und emotional kaputten Musik gehören, aber wenn die Stimmung auch nur ansatzweise melancholisch ist, besteht die Chance, dass ich es mag. 

Ein erschreckendes Beispiel ist der Song "Paris" von The Chainsmokers. Das ist billig produziert und könnte vermutlich auch von einem betrunkenen Schimpansen eingespielt werden, aber die Stimmung des Songs nimmt mich ein. Ich nutze das Wort Vibe eher selten, aber genau das trifft es. Die Synthies klingen ein wenig traurig, der Song singt von Liebe und dieser Wir-gegen-die-Welt-Attitüde, die jeder Beziehung innewohnen sollte. Mein 18-jähriges Ich schämt sich, aber ich mag diesen Song. 

Wir sprechen gern von Guilty Pleasures, aber warum eigentlich? Muss ich mich schämen? Nein. Also wenn ich Wert auf die Meinung anderer lege vielleicht, aber ganz ehrlich? Scheiß auf eure Meinung. Nicht falsch verstehen, aber ich halte Musik für die höchste Form der Kunst und wenn ein Lied es schafft, mich emotional in die Anfangszeit einer Beziehung zu führen und mir ein kleines Lächeln auf das Gesicht zu zaubern und Wehmut dafür zu empfinden, dass das Leben diesen Moment nicht einfrieren lässt, ist das verdammt viel wert.

Guilty Pleasures wären für mich objektiv schlechte Dinge. Du kaufst das neue As-I-Lay-Dying-Album, obwohl du weißt, was der Sänger gemacht hat? Du solltest dich guilty fühlen. Aber doch nicht, weil du einen guten Justin Bieber-Song hörst, der zwar radiotauglich ist, aber inhaltlich echt berührt. 

Ein anderes Beispiel "Happier" von Bastille und Marshmello. Ich hab den Song in einer Beziehungskrise entdeckt und als ich dann noch das Video dazu sah, war es vorbei. Halbe Stunde durchgeweint. Das haben damals weder HIM noch Nine Inch Nails geschafft. Für den Extrakick empfehle ich das Anschauen des Videos. Könnt schon wieder heulen. Aber letztlich ist es ein emotionaler Song über ein schwieriges Thema, den vielleicht auch Being As An Ocean geschrieben haben könnten, nur dass er eben mit Bleeps und Bloops unterlegt ist und der Sänger eben nicht schreit.

Aber es gibt auch sehr tiefgründige Popmusik, die inhaltlich in tiefsten Core-Gefilden zu finden sein könnte. Madeline Juno ist da ein perfektes Beispiel. Gute Stimme, musikalisch nicht ansatzweise aneckend, aber die Texte sind teilweise echt hart. Und nun werden Metal-Malte und Core-Corinna schreien, dass es dafür aber eben keine Popmusik braucht. Doch. Wer von euch hat sich teilweise so gefühlt wie Madeline es in "99 Probleme" besingt? Und wem hat Musik vielleicht geholfen zu merken, dass es anderen auch so geht? 

Als damals die 2000er-Emowelle aufkam, waren Gefühle wie diese plötzlich ein offenes Thema im Freundeskreis. Wir mussten unsere Probleme nicht mehr alleine lösen und unsere Dämonen nicht mehr alleine bekämpfen. Wir konnten füreinander da sein. Und deshalb ist Popmusik wie diese so wichtig. Wir können es doch nicht gut finden, dass Jugendliche erst Deathcore hören müssen um zu merken, dass es nicht nur ihnen so geht. In den letzten Jahren ist die psychische Gesundheit mehr und mehr Thema geworden und Popmusik hat diese Themen auch aufgegriffen und ich hätte es gut gefunden, mit 14 oder 15 solche Songs zu hören. Ich hatte das Glück, mich zu härterer Musik hingezogen zu fühlen, aber es geht nicht allen so. Wie vielen Menschen hätte es gut getan, von einer jungen Frau zu hören, dass es okay ist so zu empfinden? 

Wir sind uns alle einig, dass wir über solche Themen sprechen müssen und verschwitzte Männer mit Tattoos, die sich die Seele aus dem Leib schreien, sind nicht für jeden der Mensch, der helfen kann. Es braucht auch sanftere Klänge, die klarmachen, dass Depressionen jeden treffen können. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist "Bad Life" von Sigrid zusammen mit Bring Me The Horizon. Ja, Oli schreit ein bisschen, aber es bleibt radiotauglich und der Text ist echt gut, und wie viele Menschen hören den Song, während ihr Herz das erste Mal gebrochen wurde oder sie sich, aufgrund ihrer Hirnchemie, einfach nur noch scheiße fühlen und merken, dass es vielen so geht? Vielleicht reden diese Menschen miteinander und können füreinander da sein. Vielleicht rettet dieser Song ein Leben. Vielleicht mehr als eins. 

Natürlich gibt es die wertlose und unnötige Popmusik. Also ein "Atemlos durch die Nacht" oder den Rest von Helenes Diskographie hat niemand gebraucht oder die Hedonismushymne "Wildberry Lillet" von Nina Chuba ist kaum besser als die aktuelle Scheiße, die The Black Eyed Peas veröffentlichen. "Don't You Worry"? Ernsthaft?! Es gibt eine Menge Dinge, die mich worrien lassen und sie zu ignorieren hilft da auch nicht! "Where Is The Love" war so gut und danach haben die nur noch Mist gemacht. Schade. Aber wir müssen aufhören, Popmusik generell zu verurteilen. Wie viele grandiose Sänger und Sängerinnen existieren in diesem Genre, welches nun mal vor allem durch die Stimme getragen wird? Was hätte Leona Lewis denn sonst machen sollen? Eine Grindcore-Band? Apropos Grindcore. Also wenn sich Menschen arrogant hinstellen und sagen, dass Popmusik inhaltslos und wertlos sei, sollte Mal in den anderen Genres nachschauen. Sei es nun Gutalax, Frei.Wild, Kid Rock oder Haftbefehl. Jedes Genre hat Scheiße zu bieten und auch die findet Fans. Und ja, im Popmusikbereich findet sich vermutlich der höchste Anteil an Bedeutungslosigkeit, schon allein weil Schlager mittlerweile Popmusik ist, aber es gibt so viele gute Künstlerinnen und Künstler, die nur deshalb ignoriert werden sollten, weil sie keine Breakdowns haben? Ich denke nicht. 

Finn McKenty hat ein gutes Video mit Popmusik für Menschen, die alternative Musik hören gemacht und das lass ich einfach mal so hier. Sind ein paar echt gute Tipps dabei.

Wie bereits erwähnt höre ich gerne ein paar Songs von Ed Sheeran. Ich hasse "Shape Of You", weil es halt echt nicht gut ist und Sex-Songs lassen wir mal schön bei Barry White. Und "Bad Habits" finde ich auch grausig. Aber ein "Drunk" oder "Castle On The Hill" über die Nostalgie an die Jugendtage sind gut geschriebene Songs. Ich bin 2014 aus meiner Heimatstadt weggezogen und jedes Mal, wenn ich meine Familie besuche, kommen die Erinnerungen wieder hoch. Die erste Liebe, der erste Vollrausch und tausend Momente, in denen ich glücklich oder todtraurig war und dachte, dass es immer so bleiben würde. Nun haben die meisten Kinder, Karriere und was bleibt sind Likes bei Instagram. Der Song macht mich immer ein bisschen melancholisch. Nicht falsch verstehen. Ich will nicht wieder wie mit 16 im Park stehen und Billigbier trinken, aber die Sehnsucht nach dem einfachen Leben von damals dürften die meisten kennen. Aber dann gibt es noch "Overpass Graffiti" über eine verlorene Liebe, die aber nie ganz aufhört. Ich mein, wer hat nicht diese ein Person, die nie ganz aus dem Kopf verschwunden ist? Diese Beziehung hatte nie eine Chance und trotzdem bleibt ein Teil davon. 

Und vergessen wir bitte nicht "Supermarket Flowers". Ich weiß noch wie meine Stationssekretärin mir diesen Song im Auto zeigte. Ich stieg danach aus, ging in meine Wohnung, habe den Song gekauft und erstmal geweint. Eine so schöne und schmerzhafte Beschreibung über den Verlust eines Menschen habe ich selten gehört. Klar, "Everything Dies" von Type O Negative ist ein Song, den ich nach dem Tod meines Vaters viel gehört habe, aber "Supermarket Flowers" brachte mich zum Weinen, als ich noch gar kein Familienmitglied verloren hatte. Das ist schon begeisternd.

Es gibt natürlich mehr gute Songs, die ich nicht alle als Video einbinden will, weil der Artikel sonst viel zu lange wird, aber ich mach die hier mal als Link rein.

LEA - "Schwarz feat. Capser" und "Parfum"

Sasha Alex Sloan - "WTF" und "Smiling When I Die"

Esther Graf - "Würd Es Auch Tun" und "Red Flag"

Selena Gomez - "Lose You To Love Me"

Die Fantastischen Vier - "Flüchtig" (ja, ist Rap, aber definitiv Popmusik)

Sam Smith - "Too Good At Goodbyes"

Prinz Pi - "Letzte Liebe"

Berge - "10.000 Tränen"

The Fray - "How To Save A Life"

Matthew Perryman Jones - "Homage For The Suffering"

The Cranberries - "Ode To My Family"

Die in diesen Songs behandelten Themen finden sich teilweise auch in anderen Genres, aber hier wird es eben für alle verständlich vorgetragen (also ich hab Brendan Murphy am Anfang nicht verstanden!) und wenn ich da nur an Billie Eilish oder Halseys letztes Album "If I Can't Have Love, I Want Power" denke, welches mir musikalisch nicht so sehr gefallen hat, aber textlich richtig gut war, kann mir kein Mensch erzählen, dass Popmusik inhaltslos sei. Da können wir direkt mal das Thema Sexismus und Feminismus reinbringen. Als weißer Mann kann ich mich problemlos auf allen Konzerten bewegen, aber wie einladend sind Metal- oder Hardcorekonzerte für eine weibliche Person? Wie akzeptiert sind weibliche Punkbands wirklich? Und die Vergewaltigungsskandale höre ich in den letzten Jahren auch eher aus dem Rockbereich. Nicht sehr einladend. Weibliche Personen werden teilweise noch sehr veraltet sozialisiert und da gehört eben auch Popmusik dazu. Klingt einfach netter und jetzt geh mit deinem rosa Pony spielen. Also ist es doch gut, wenn diese Musik es schafft, Female Empowerment zu fördern und offen über toxische (oder auch nur ungesunde) Beziehungen und Strukturen singt. Popmusik hat den inhaltlosen Hedonismus der 90er lange hinter sich gelassen und ist ein ernstzunehmendes Genre geworden, welches vor allem bei den jungen Künstlern und Künstlerinnen absolute Perlen bereithält. Googlet einfach mal Alt Z. Ist ein eigenes Popgenre, welches wirklich viele gute Songs bereithält und doch Popmusik ist. Und auch abseits davon gibt es gute Songs. 

Das dürfte mein videolastigster Text sein, den ich je für Album der Woche geschrieben habe und es könnten noch so viel mehr sein, aber es liegt mir wirklich am Herzen. Viel zu viele Menschen verschließen sich gegen ein ganzes Genre und verpassen vielleicht Meisterwerke. Wobei es schon besser geworden ist als in meiner Jugend. Da war es ja schon verpönt Rock und Rap zu hören. Und dann kamen Linkin Park.

Zum Abschluss möchte ich euch einen meiner Lieblingssongs zeigen. Ihr kennt den vermutlich alle. Aber die meisten eben nur aus dem Radio. Und da ist der gekürzt, genauso wie im Musikvideo. "I'd Do Anything For Love (But I Won't Do That)" von Meat Loaf ist im Original 12 Minuten lang und das Duett, welches der absolute Höhepunkt ist, ist auch länger.

Hört es euch komplett an und genießt es. 

Abschließend bleibt zu sagen, dass Popmusik aufgrund der Menge an Künstlern und Künstlerinnen natürlich einen Haufen Scheiße hervorbringt. Gibt eine schöne Böhmermannfolge zu Max Gießinger und die trifft es gut. Aber schaut über den Tellerrand. Bleibt offen und vielleicht hilft durch die nächste Sinnkrise dann eben auch mal Madeline Juno und nicht nur Suicide Silence. Wird auch die Nachbarn freuen.