Kolumne

Judith Holofernes' Buch (und Patreon)

Judith Holofernes ist den meisten als Sängerin von Wir sind Helden bekannt. Dass sie seit Jahren bei Patreon frei tätig ist und nun ein Buch veröffentlicht hat, wissen vermutlich weniger Menschen. Zeit darüber zu reden!
gezeichneter Kopf von Judith Holofernes aus dem Farben sprühen

Wer meine Joelumne aktiv verfolgt hat sicherlich meinen Lobgesang auf das erste Wir sind Helden-Album gelesen. Wenn nicht, ist das auch okay. Aber ich bin Wir sind Helden-Fan der ersten Stunde und hab seit "Guten Tag" nie ganz davon ablassen können. Die späteren Alben habe ich zwar nie physisch erworben, aber die Band verlor, ähnlich beispielsweise bei Die Ärzte, deren letzte Alben mir egal waren aber die immer ihren Stellenwert behalten werden, nie an Magie und gerade das Unaufgeregte und Freundliche der Gruppe war so schön anzusehen. Natürlich liebe ich die kaputten, grenzwertigen und krassen Künstler, aber eine Band, die so schöne Texte und Songs schreiben konnte, ohne unnötige Allüren, war einfach toll. Das Ende kam damals unerwartet und ich war ein wenig irritiert, als ich Judith damals dann mit anderen Menschen bei TV Noir gesehen habe. In ihrem Buch "Die Träume anderer Leute" beleuchtet sie nun, warum es so kam und wie es ihr damit erging. Auf sympathische und verletzliche Weise zeigt sie ihre Seelenwelt und die Tiefen, durch welche sie gehen musste um da anzukommen, wo sie nun steht.

Ihre zwei Soloalben habe ich gehört, wurde aber nie ganz warm damit, ähnlich wie es bei Farin Urlaub oder Bela B. war. Also mein Lieblingssong ist bis heute "Kamikazefliege", einfach weil der so schön beschreibt, wie es sich in jungen Jahren anfühlt, verliebt zu sein. Aber trotz dessen, dass ich ihre Alben nie vollständig lieben konnte, fand ich sie immer begeisternd, einfach weil sie drauf geschissen hat, was ich hören will. Den selben Respekt hat sich Reznor (natürlich wird er erwähnt) bei mir auch verdient. Klar könnte er ewig versuchen an "The Downward Spiral" anzuknüpfen, aber will er nicht und so schreibt er Alben, die völlig anders klingen, aber in welche er eben Liebe steckt. Das gleiche Gefühl habe ich bei Judith gehabt. Einfach wäre es gewesen noch ein paar Helden-Songs zu schreiben, Judith Holofernes draufzuschreiben und das Geld zu kassieren. Hat sie aber nicht. Sie verpackte andere Themen und schrieb, wie in ihrem Buch beschrieben, anders als früher und auch wenn der große kommerzielle Erfolg ausblieb, verdienen die Alben unseren Respekt als Kunst. Sie hat ein Buch mit Tiergedichten veröffentlicht und war bei "Sing mein Song", was ich damals nicht mitbekommen habe, aber ich hab mal reingehört und ihre Stimme macht sogar Revolverheld schön. 

Das Buch ist ein teils schonungsloses Werk und lässt tief in die Abgründe blicken, in welchen sie leben musste um da anzukommen, wo sie nun steht. Dabei geht es um Depressionen, Gewichts- und Selbstbildprobleme und die eigenen Werte und natürlich das Leben mit einer Familie, bei der beide Elternteile Teil der Band sind und sich auch danach noch ein wenig finden müssen. Es wirft auch Fragen auf und beschäftigt sich damit, wie sehr ein Pop- oder Rockstar eigentlich Mutter oder Vater sein darf. War ich damals nicht auch ein wenig skeptisch und gar erschüttert, als Reznor sein erstes Kind bekam? Ja. Mittlerweile hat er fünf und mehr Output als in seiner von Fans so zelebrierten Drogenzeit. Alles gut. Seine Frau ist meist auf Tour mit dabei und die Kids vermutlich auch, aber die Gesichter sind bis heute unbekannt und sie werden nur nebenbei erwähnt, in Podcasts oder so. Aber er schafft es. Aber als Fan erwarten wir zuerst den Zusammenbruch der Kunstfigur. Wie kann ein Mensch meinen Erwartungen als Künstler oder Künstlerin gerecht werden und gleichzeitig Mutter oder Vater sein? Ist es nicht grausam von einem Menschen zu erwarten, das halbe Jahr auf Tour zu sein, wenn zu Hause das Kind eingeschult wird oder Abiball hat? Und nicht jeder Kunstschaffende ist erfolgreich genug um die Tour um so etwas herumzuplanen. Da wird erwartet, dass überall gespielt wird. Auch wenn der andere Mensch in der Beziehung zu Hause bleiben kann, ist es nicht einfach und wir erwarten das aber. In Dave Grohls Buch "Storyteller" gibt's eine schöne Anekdote, wie er zum Vater-Tochter-Ball mal eben um die halbe Welt fliegt, mit ihr hingeht und dann wieder zurück zur Tour fliegt, dabei noch ein Konzert verlegen lässt. Die Foo Fighters können sich das leisten, aber viele Menschen in der Musik- und Kunstwelt eben nicht. Allein deshalb ziehe ich den Hit vor Judith und Pola, aber auch Mark und Jean, weil sie es soviele Jahre geschafft haben und alles dafür gaben, die Fans und die Familie glücklich zu machen. Also Kinder kriegen und haben ist okay, aber eigentlich dürfen Musiker und Musikerinnen nicht Eltern sein, ohne dass die Kunst oder das Image scheinbar leidet. Und da musste ich auch nachdenken, wie sehr die Bands und Menschen, die ich mag und die Eltern sind, wirklich Eltern sein dürfen und wieviele wichtige Momente gar nicht miterlebt werden können, da die Band auf Promotour muss und dies den Personen überlassen muss, die sie dafür bezahlen. Auf Tour kommen wohl die wenigsten Kinder mit. Die zwei aber haben es versucht, geschafft und haben doch auch mit dem eigenen Seelenheil temporär dafür zahlen müssen. Doch durch all diese Wirbel manövriert sie sich und am Ende siegt eben auch die Kunst. Sie hat es geschafft glücklich zu sein, ohne das die Familie zu kurz kommt, oder sie ihr Künstlerinsein aufgeben muss. Judith beschreibt den Weg zu Patreon und auf ihre liebevolle, verschrobene Art lässt sie bei jedem Schritt mitfiebern. Ich habe das Buch innerhalb von 2 Tagen verschlungen, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht. Ich gönnte ihr jeden Erfolg, jeden schönen Augenblick und litt mit, wenn die dunklen Tage nicht enden wollten. 

Von allen weiblichen Stimmen, die ich im Musikbereich kenne, dürfte Judith meine Nummer Eins sein. Sind ihre Songs manchmal ein wenig zu verkopft? Ja, auf jeden Fall! Aber ich kenne kaum eine Frau, die mich mit ihrer Stimme, die so menschlich, zerbrechlich und doch stark war, so berühren konnte. Natürlich mag ich mehr Sängerinnen, aber die meisten sind austauschbar und immer ein wenig anbiedernd gewesen, während Frau Holofernes einfach das machte, was sich für sie gut anfühlte. Sie fühlte sich damit nie wohl ein Produkt zu sein und genau das ist es aber, was die Musikindustrie aus Menschen macht. Mit ihrem Schritt zu Patreon ist sie nun unabhängiger und kann Schreiben und Podcasts, die übrigens sehr hörenswert sind (vor allem der mit Funny van Dannen!), aufnehmen und wenn sie will, auch wieder Musik machen, ohne den Druck, der ihr Leben lange im Griff hatte und an dem sie zu zerbrechen drohte. Geholfen hat dabei übrigens Amanda Palmer, welche den selben Schritt getan hatte und Judith dabei begleitete und zur Freundin wurde. Neben einigen, wirklich interessanten Freundschaften (wie beispielsweise zu Teitur), hat das Buch auch einen wunderschönen Schwerpunkt. Nichts tun! Die von ihr bereits besungene Müßiggang (also wie in Bikergang...also mit ä ausgesprochen) ist nun Name der Patreoncommunity und das zielgerichtete Nichtstun musste von ihr gelernt und perfektioniert werden, um ihr Leben zu verändern und vielleicht zu retten. Viel Stoff um darüber nachzudenken. Ich will auch nicht zu viel erzählen. Es ist ein tolles Buch, einer begeisternden Künstlerin, deren Stimme Teil einer Generation ist und die es verdient hat ihrer Kunst freien Raum zu lassen. Ich habe vor Jahren damit aufgehört, musikalische Helden (hihi) treffen zu wollen (ja, auch bei Reznor nehme ich davon Abstand!), aber bei ihr würde ich eine Ausnahme machen. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass soviel Lust gemacht hat, einen Menschen (noch mehr) kennenzulernen. 

Seitdem sende ich ihr nun auch Geld bei Patreon. Ich nutze die Plattform erst seit kurzem, eigentlich um Finn McKenty, den Nailed-Podcast, DankPods und die Band HEALTH (deren Musik ich nicht mal sooo sehr mag, aber die posten geile Memes bei Instagram und sind einfach eine mutige Band, die es verdient hat) zu unterstützen. Doch mit den letzten Zeilen des Buches war ich überzeugt, dass sie es verdient hat, ein paar Euro dafür zu bekommen. Ich wünsche mir, dass mehr Kunstschaffende diesen Schritt gehen und Fans die Möglichkeit geben, sie zu unterstützen, ohne sich den Schrank mit Merch zuzumüllen, der unter miesen Bedingungen produziert wurde, da es ja oft der einzige Weg zu sein scheint, der Band Geld zukommen zu lassen, da Albumverkäufe (mach ich trotzdem, aber ich kauf das Album ja nicht zwanzig Mal, damit da wirklich was rumkommt) oder Spotifyplays kaum etwas einbringen oder in meinem Fall auf Konzerte zu gehen, die ich mittlerweile eher anstrengend finde. Würden beispielsweise Counterparts oder Nine Inch Nails einen Patreon starten, wäre ich sofort dabei. Wieviele gute Alben es vielleicht geben könnte, wenn die Kunstschaffenden sich mehr Zeit nehmen könnten, weil sie ein regelmäßiges, sicheres Einkommen, durch ihre Fans und nicht ein Label, haben? Jedenfalls kann sich Judith nun meiner Unterstützung sicher sein und ich kann das Buch nur empfehlen. Ich mag biographische Bücher und dieses zählt nun zu meinen liebsten. Es ist witzig, traurig, schonungslos und doch einfach liebevoll. Es ist von allen Büchern, die ich dieses Jahr bisher gelesen habe, mein liebstes und dabei musste es gegen 28 andere bestehen! 

Ich hoffe, dass ich, irgendwann einmal, noch ein Buch von ihr lesen darf. Vielleicht über ihr Leben mit Patreon (ja, sie bloggt, aber als Buch wäre es halt schöner) oder einfach über ihr Leben mit dem Hund...was weiß ich. Ich habe dieses Buch verschlungen, weil es so wunderschön geschrieben wurde und ich kann es nur allen ans Herz legen, ob Helden/Holofernes-Fan oder nicht, dieses Buch zu lesen. 

"Du bringst mich um
Schlaf und Verstand
Für dich geb' ich
Dem Wahnsinn die Hand."

Liebe Judith, solltest du aus unerklärlichen Gründen über diesen Text stolpern - danke für dieses Buch. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute und hoffe noch viel von dir zu lesen und zu sehen. 

So. Ich werd' jetzt "Die Reklamation" hören und mich fragen, was ich als nächstes lesen, beziehungsweise, was mich nach diesem Buch unweigerlich als nächstes eher enttäuschen, soll.

Bis zum nächsten Mal, 

xoxo 

Joe