Reviews

Scars On Broadway und „Dictator“: Unter falscher Betrachtung

Daron Malakians Sequel zum zehn Jahre alten Scars-On-Broadway-Debüt muss sich vor allem seinen gewaltigen Erwartungen stellen. Dabei täte es gut, „Dictator“ als isoliertes Projekt zu betrachten.

Malakians neuester Output hat es in dieser Hinsicht aber auch wirklich nicht leicht. Erst kürzlich erläuterten mehrere System-Of-A-Down-Mitglieder, warum eine neue Platte der Alternative-Metal-Götter in absehbarer Zeit wohl nicht mehr zustande kommen wird. Serj Tankian möchte fünf der Songs, die er ursprünglich für eine neue Platte seiner Band geschrieben hatte, nun als Solo-EP veröffentlichen. Und auch das zweite Album von Scars On Broadway erscheint eigentlich in einem Kontext, in dem es nie geplant war. Malakian hatte die Platte bereits 2012 angekündigt. Veröffentlicht wird sie trotzdem erst jetzt, weil das zweite Aushängeschild von System Of A Down bis zum Schluss gehofft hatte, die Songs doch noch mit seiner Hauptband veröffentlichen zu können. Ist „Dictator“ deswegen also gar nicht die Fortsetzung des selbstbetitelten Debüts von 2008, sondern die sechste (oder fünfte) System-Of-A-Down-Platte?

Tatsächlich lassen viele Momente des Albums diesem Gedanken Spielraum, erinnern sie mit ihren verspielt-folkigen Gitarrenläufen, aufstrebenden Spannungsbögen und unvergleichlich wütenden Ausbrüchen doch stark an das späte System-Of-A-Down-Doppel „Mezmerize“ und „Hypnotize“, an dem Malakian als maßgeblicher Songwriter federführend beteiligt gewesen war. „Dictator“ ist dennoch nicht als Nachfolger zu diesen beiden Alben zu verstehen, denn trotz allem drückt Malakian hier lediglich seine eigene, ungefilterte Sichtweise auf System Of A Down aus – besonders nach dem Scars-On-Broadway-Ausstieg von Shavo Odadjian. Ist „Dictator“ im Vergleich zu einem System-Meisterwerk enttäuschend? Mit Sicherheit, aber Slashs Projekte mit Myles Kennedy werden ja auch nicht an der Qualität eines „Appetite For Destruction“ bemessen.

Als eigenständiges Werk entfaltet „Dictator“ aber seine Vorzüge. Malakians musikalische Direktheit hatte schon das erste Album von Scars On Broadway zu ungleich rasant voranpreschenden Alternative-Platte gemacht. Der Nachfolger nimmt dieses Gefühl und überträgt es in weiter gefasste Songs, die sich nun auch Zeit für Solo-Passagen lassen. Wie unglaublich wütend und faszinierend das klingen kann, belegt etwa „Angry Guru“ eindrucksvoll. Nachdem Malakian dort vokal den Weirdo raushängen lässt, erklingt auf seinem Instrument eine Achterbahnfahrt aus irrwitzigen Tremolo-Spielereien, die an eine orientalische Zitar erinnern. „Sickening Wars“ ist wiederum so kurz und kompromisslos wie ein Track der ersten Scars-On-Broadway-Platte, während das eröffnende „Lives“ gar hymnischen Charakter entwickelt. Malakian lässt sich auf der neuen Platte seines Zweitprojekts aber auch mehr Platz für resignierende Momente, etwa in dem vom metallenen Synthesizer-Nebel eröffneten „Guns Are Loaded“, das die Aussichtslosigkeit und den Zwang von Krieg und Überlebenskampf erdrückend gegenüberstellt: „This is for the abused/ This is for the abuser/ I know you didn’t choose it/ This is fucking life/ You just want to survive“.

Gerade die lyrische Komponente von „Dictator“ gewinnt in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Platte eine noch tiefere Bedeutung. Bereits seit sechs Jahren ist das Album fertig geschrieben, trotzdem haben Zeilen wie „We are the people who were kicked out of history“ als Bezug auf die fehlende Anerkennung des armenischen Genozids seitens der türkischen Regierung noch keinen Funken Bedeutung verloren. Tatsächlich scheinen die zunehmend diktatorischen Züge Erdogans einen Song wie den Titeltrack noch aktueller wirken. „War is coming/ Soldiers marching/ God is falling/ Your politics will never corrupt me“: Ein Endzeit-Szenario, das wir noch nicht erreicht haben, dem wir aber immer näher zu kommen scheinen – und dem wir vor allem näher sind als noch 2012.

„Dictator“ zeigt so fast schon unfreiwillig genau, wie deutlich sich unsere Welt gerade Richtung Abgrund bewegt. Daron Malaikian transportiert diese Botschaft mit im Vergleich zu einem Serj Tankian unkomplizierten Songwriting, das gerade dadurch aber so rasant und verstörend treibend klingt. Man darf „Dictator“ durchaus vorwerfen, etwas zwischen den Stühlen zu stehen, weil das Album sowohl Elemente von System Of A Down als auch von Scars On Broadway bedient, dabei aber in keiner der beiden Disziplinen zur absoluten Höchstleistung aufläuft. Trotzdem bleibt „Dictator“ ein stürmisches Wutgeschrei gegen Unterdrückung und Negation, das wir dringend brauchen. Vielleicht dringender als ein neues Sytem-Of-A-Down-Album.

Fazit

7.4
Wertung

Mit sechs Jahren Verzögerung präsentiert Daron Malakian die Bestandsaufnahme einer apokalyptischen Welt. Damit hätte er sich gern weniger Zeit lassen können, „Dictator“ wird aber gerade dadurch ein noch erdrückenderer Spiegel voller beklemmender Momente, aber vor allem dringend ersehnten Stimmen des Protests. Und der Typ unter mir hat einfach keine Ahnung.

Jakob Uhlig
5
Wertung

Daron Malakians Stilsicherheit und seine grundsätzliche Ambition, zusammen mit Scars On Broadway den Powermetal aus einem anderen Jahrtausend mit osteuropäischer Melodik zu verbinden, machen "Dictator" zu einem Album, das man in dieser Art wohl erst selten gehört hat. Die einzelnen Bausteine allerdings offenbaren den Mief aus der Zeit gekommenen Metals, zu viel System-Of-A-Down-Nostalgie und klingen auch produktionstechnisch eher wie eine frühe Metallica-Demo.

Julius Krämer