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The Interrupters und „In The Wild“: Raubeinige Kampfangsage

„Wenn auch nur ein weiteres Album mit der Covid-Tristesse der letzten zwei Jahre angeteasert wird, dann müsste man doch mangels Einfallsreichtum glatt einen Verriss verfassen.“ Wem sich dieser aggressive, anmaßend erscheinende Gedanke aufdrängt, dem kann beruhigt entgegnet werden: „In The Wild“ rechtfertigt auch solcherlei Fauxpas.

Für Frontfrau Aimee Allen scheint der neue Longplayer eine Herzensangelegenheit zu sein. Nicht nur wurde in den Produktionsprozess verhältnismäßig viel Zeit investiert, auch der Inhalt wartet mit einer Menge biographischer Einflüsse auf. Zwischenmenschliche Tragödien, gesellschaftliche Fehlentwicklungen und, damit nahezu zwangsläufig verbunden, auch die inneren Dämonen nehmen viel Raum ein. „In The Wild“ ist keine generische Bezeichnung für ein weiteres, belangloses Rock-Album, sondern Aufbruch und Verarbeitung gleichermaßen.

Das Beschriebene wird auf dem vorab veröffentlichten „Raised By Wolves“ perfekt umgesetzt. Ist das Stadion- oder doch eher Punkrock (für den subkulturellen Untergrund)? Nebensächlich, dieser Song wird im Live-Kontext sicherlich jede Lokalität mächtig aufwühlen. “Jailbird“ und „Afterthought“ dürfen in der Setlist ebenso keineswegs fehlen, bedienen sie doch alle Stilelemente, die Freund:innen dieser Musik leben und lieben. „In The Mirror“ geht im Rahmen der individuellen Möglichkeiten und Vorerfahrungen einem versöhnlicheren Weg nach. Der Spiegel verschwindet nicht einfach, warum das Gespiegelte also nicht einfach akzeptieren? So einfach kann/soll es sein. Die Psychologin Dr. Kristin Neff würde von Selbstmitgefühl sprechen.

Ein weiteres i-Tüpfelchen stellt „As We Live“ dar. Ein sommerlicher Offbeat, eine wohlklingende Melodieführung und ein auf Anhieb überzeugender Refrain sind nur drei Gründe für diese positive Einschätzung. „Anything Was Better“ zeigt, dass mit Bassspuren gepaarte, liebevoll herausgerotzte Vocals nicht nur auf der „Bro Hymn“ ihre Berechtigung haben. Ein gefälliger Song, der ohne großes Aufsehen auskommt. „Kiss The Ground“ und „Burdens“ flankieren die sonst punkig galoppierende Tollwut um karibische Minutenausflüge, die angenehmer, wenn allerdings auch optionaler Natur sind. Die Stärken liegen an anderer, vehementerer Stelle. Apropos Vehemenz: Auf „The Hard Way“ heißt es Zähne zeigen. Dieser Song strotzt neben „Let Go“ nur so vor Pathos und DIY-Mentalität. Dass man eine solche, von Abgründen durchzogene Platte mit einer emotionalen Ballade beendet, mag letzten Endes kalkuliert erscheinen. Doch ist speziell diese Ballade glaubwürdig und nur folgerichtig, sodass sie sich als kitschfreies Finale durchaus profiliert.

Festzustellen ist, dass die zweite Albumhälfte leicht abflacht. Es mag an den überdurchschnittlich gelungenen Vorab-Singles liegen, dass manch weiterer Song eher wie (gewissenhaft zubereitete) Standardkost anmutet. The Interrupters kehren vor der eigenen Haustür und nehmen den Kampf mit den persönlichen Schattenseiten auf - raubeinig, energiegeladen und mit der hierfür erforderlichen Portion Pathos.

Fazit

7.3
Wertung

Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich durch die allseits beliebten Algorithmen den 2018er Vorgänger für mich entdeckt und liebgewonnen. „In The Wild“ geht ähnliche, durch kleinere Experimente aufgelockerte Wege, die dem weiteren Werdegang der Band absolut würdig sind. Für den Sprung zu einer Bestnote fehlt mir noch die Konstanz auf der Langstrecke.

Marco Kampe