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Die Ärzte und „Hell“: Ist das wieder Punkrock?

Acht Jahre ist es her, dass die selbsternannte „Beste Band der Welt“ ein Studioalbum auf den Markt gebracht hat. Der Nachfolger im 27. Bandjahr nach Neugründung muss natürlicherweise großen Erwartungen gerecht werden. Aber schafft er das auch?

Zugegeben: Die großen Erwartungen haben Die Ärzte sich selbst auferlegt. Seitdem die Single „Morgens Pauken“ erschien und bei den dafür bekannten Radiosendern rauf und runter gespielt wurde, durfte man endlich wieder auf deftigen Punkrock von den Berlinern (Aus Berlin!) hoffen. Vor mehr als acht Jahren erschien das letzte Album „Auch“, welches jedoch zum großen Teil bedeutungslos an einem vorbeidudelte. Dass die Platte trotzdem 34 Wochen auf Platz eins der deutschen Charts verweilte, ist der bedingungslos liebenden Anhängerschaft sowie den radiotauglichen Singles „M&F“ und „Ist das noch Punkrock?“ zu verdanken. Songs mit dieser Ohrwurmgarantie und Radiotauglichkeit hat es bereits vor „Auch“ gegeben („Lasse Redn“ auf „Jazz ist Anders“) und gibt es in Form der zweiten Single „True Romance“ auch dieses Mal. Auch in diesem Fall werden die wenigsten am Radio hinterfragen, warum Farin Urlaub über ein Date mit seinem Handy und körperlicher Vereinigung mit Alexa singt, sondern einfach lauthals mit in den Chorus einsteigen. Trotz seiner Aussage, dass es nicht viele Reime auf das Wort Alexa gibt, wirft er damit nur so um sich. Mit dem erwarteten Punk der härteren Gangart hat das hingegen leider wenig zutun.

„Hell“ besteht aus insgesamt 18 Titeln und ist mit einer Stunde heutzutage - vor allem im Vergleich mit anderen Punkrockplatten - ein langes Album. Eingestimmt wird die Hörerschaft durch das Intro „E.V.J.M.F.“, dessen Titelbedeutung ein Insider der Band ist und unbekannt bleiben soll. Dass das Intro elektronisch daherkommt und von Trap-Beats bestimmt wird, kommt unerwartet und ist als Ärzte-typischer, kreativer Ausreißer nach dem Motto „Wir machen das einfach, weil wir Bock drauf haben“ zu bewerten. Wer das Album auf CD oder Vinyl hört, wird, im Gegensatz zu der Version auf den Streamingportalen, wie in einem Hörspiel übergangslos von einem Song in den nächsten begleitet. Sei es mit Tiergeräuschen, einer kleinen Unterhaltung zwischen den Bandmitgliedern, oder einem einfach weitersingenden Bela. Genauso geht es vom Intro endlich rein ins Album, hinein in den Song „Plan B“, der das dreizehnte Studioalbum der Band eröffnet. Jetzt auch so richtig mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und der unverwechselbaren Gesangstimme von Farin Urlaub. Garniert mit melodiösen Gitarrenriffs erklärt Farin das Erfolgsrezept von guter Rockmusik an praktischen Beispielen. Wer also anstrebt, Erfolg mit Punkrock zu haben: Genau zuhören!

Waren die letzten Alben von Die Ärzte im Bezug auf die Songanteile von Farin, Bela und Rod noch mehr oder weniger ausgeglichen aufgeteilt, scheint „Hell“ von Farins Stimme dominiert zu werden. Rod platziert mit „Polyester“ sogar nur einen einzigen, gegenüber all dem Plastik auf diesem Planeten kritischen, reinen Rod-Song auf der Platte. Dieser klingt leider austauschbar und so, als hätte man ihn auf dem vorherigen Album „Auch“ bereits gehört. Belas Beitrage zum Album wirken da deutlich interessanter: „Achtung: Bielefeld“ bedient sich am auch bei den Ärzten bereits vorgekommenen Thema Langeweile und stellt diese als Luxusproblem dar, nach dem sich beispielsweise eine Mutter in Aleppo sehnen würde. „Clown aus dem Hospiz“ verpackt den Umstand, dass Künstler in Einsamkeit und im Dunkeln am besten arbeiten können, in dem entgegenstehenden, fröhlichen Klängen. „Einmal ein Bier“ erzählt die Geschichte einer Transformation zur Kaltschorle und „Fexxo Cigol“ führt die teilweise sehr fragwürdigen Denkweisen von Verschwörungstheoretikern vor. Den Abschluss der Bela-Songs macht „Alle auf Brille“, ein typischer Oi-Song zum Mitgröhlen über das Hänseln eines Brillenträgers und dem dann einschlagenden Karma, selbst zur Sehhilfe gezwungen zu werden und von der Täter- in die Opferrolle zu rutschen. Leider kommt es einem auch bei Bela zuweilen so vor, als ließe die Kreativität im Songwriting etwas nach und als hätte man auch diese Ansätze irgendwo im Schaffen der Ärzte schon einmal gehört.

 

Spätestens bei den Titeln von Farin Urlaub neigt man zu der Frage, wie in aller Welt man sich diese Vielfalt an Inhalten und Melodien eigentlich immer wieder aufs Neue ausdenken kann. Neben dem erwähnten „Plan B“ und „True Romance“ beschäftigte sich Herr Urlaub in den vergangenen Monaten und Jahren textlich mit Vergleichen zwischen Beyoncé und Gitarristen, dem wunderschön und balladisch vorgetragenen Sinn des Lebens, der Lösung namens „Liebe gegen Rechts“ für Probleme aufgrund von Differenzen im Gedankengut mit Partner und Freunden, seinem Groll gegenüber Chris Hemsworth, der ihm seinen Körper geklaut hat, oder seinen Ideen, wie man auf Basis der Nächstenliebe mit der AFD umgehen sollte. Highlights der Platte sind in dieser tristen und verregneten Herbstzeit die Titel „Das letzte Lied des Sommers“, welches zumindest die Gefühle von Meer und Strand zurückholt, dabei aber mit seinen Blechblasinstrumenten klingt, als wäre es eigentlich für das Farin Urlaub Racing Team geschrieben worden, sowie der Track „Ich, am Strand“. „Ich, am Strand“ erzählt eine Lebensgeschichte von der Geburt über die Schule, die erste Liebe, Studium, Arbeitslosigkeit bis zum Frieren unter einer Brücke in der Form, als ob Farin ein Fotoalbum durchblättern würde und dabei beschreibt, was auf den einzelnen Seiten zu sehen ist.

61 Minuten später - und bestenfalls nach mehrmaligem Anhören - lässt sich die Antwort auf die Ausgangsfrage nach dem Erfüllen von Erwartungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge beantworten. Musikalisch erfüllt „Hell“ nicht die Erwartung, dass „Morgens Pauken“ der Vorreiter einer Punkrockplatte á la „Geräusch“ oder der davor erschienenen Alben war. Dennoch ist „Hell“ ein vielfältiges und trotzdem Ärzte-typisches Album, welches vor Humor, Witz, aber auch der nötigen Ernsthaftigkeit und Haltung nur so strotzt. Kurzum: Nicht nur Fans der Band dürften sich hier kurzweilig unterhalten fühlen. Wenn man dazu bedenkt, dass die Fortführung der Gruppe laut einer aktuellen Aussage von Farin Urlaub lange unklar war, darf man sich umso mehr über 17 neue Songs und ein neues Trap-Intro von Die Ärzte freuen.

 

Fazit

7.5
Wertung

Für mich ist das letzte halbwegs brauchbare Die-Ärzte-Album bereits 13 Jahre her (mein halbes Leben!), das letzte richtig gute Album liegt 17 Jahre zurück. Ich nehme „Hell“ mit offenen Armen in mein Plattenregal auf und freue mich über neuen Input einer meiner absoluten Lieblingsbands, bei der ich jetzt nicht mehr im Archiv kramen muss, um mich gut unterhalten zu fühlen. Für mich gilt nach wie vor: Gefangen im Schattenreich von Die Ärzte.

Mark Schneider