Die Randbereiche deutschsprachiger Rockmusik

Befragt man den gemeinen Musikliebhaber nach der musikalischen „Grauzone“, so wird es seltener um die NDW-Formation der 1980er Jahre gehen. Vielmehr weckt ebenjene Assoziationen mit solchen Bands, die sich im Windschatten einer umstrittenen Frankfurter Formation allmählich an die kommerzielle Spitze der hiesigen Rockmusik gepirscht haben.

Der ewig fortwährende Konflikt um die Böhsen Onkelz füttert sich bis heute durch bandseitige Pauschalkritik an der Medienlandschaft und wurde auch nicht durch Songs wie „Deutschland im Herbst“ oder „Ohne mich“ zum Erliegen gebracht. Festivalauftritte bei „Rock gegen Rechts“ blieben, gemessen an der allgemeinen Wahrnehmung, erfolglos. Verbale Auseinandersetzungen bleiben an der Tagesordnung.[1]  Ihre künstlerische Pause der Jahre 2005 bis 2014 hinterließ ein Vakuum. Ein Vakuum für melodiöse Rockmusik mit dem Charakter einer bierseligen Fankurve, einer Prise des Dagegenseins. Aber auch ein Vakuum für Kontroversen und polarisierende Inhalte. Bezeichnet man sie infolgedessen als ungewollte Mitbegründer eines ganzen Subgenres, dem sie sich interessanterweise selbst verschließen (Stephan Weidner - „Kampf den Kopien“), empfiehlt sich ein näherer Blick auf die umtriebige Erbfolge.

Wie eingangs erwähnt, tummeln sich in den höchsten Sphären der deutschen Charts regelmäßig Bands, die wahlweise Schnappatmung (Einstiegsdroge) oder ergebene Heldenverehrung auslösen. Bei der Grauzone gibt es keine Grauzone, oder: eine Positionierung erscheint notwendig. Für das kreisende Damoklesschwert führt eine Recherche im Duden zu folgender Definition: die Grauzone ist ein „zweifelhafter Bereich“, welcher sich irgendwo zwischen „Legalität und Illegalität“ bewegt. Dabei scheint die Zugehörigkeit zu dieser Szene dynamisch zu sein. Die Broilers sahen sich mit der „Hexenjagd“ noch im Jahr 2007 gezwungen, ein Statement gegen diese Einordnung setzen zu müssen, ähnelte ihr damaliger Oi!-Punk doch jenem Stil, der mehr und mehr in Verruf geriet. Allerdings schien dies nicht zu reichen, denn noch im Januar 2014 beschrieb sie die BILD-Zeitung als Teil von „Deutschlands Tabubands“.[2] Heutzutage stellte wohl niemand mehr die zivilgesellschaftliche Grundhaltung der Broilers ernsthaft in Frage. Auch Rammstein erging es primär zum Ende der 1990er Jahre ähnlich. Ihr martialischer Sound, ein ausgiebig gerolltes „R“ und die Aufbereitung von NS-Filmmaterial (für die sie zunächst Reue zeigten, dann aber doch wieder aus staubigen Kisten hervorholten) ließen die Zeitungen und Funkhäuser Sturm laufen.[3] Inzwischen hat sich die Rezeption der Band trotz immer wiederkehrender Kontroversen normalisiert. Im Feuilleton wird über die Auslegung der düster-brachialen Texte philosophiert und man erkennt den Exportschlager deutschsprachiger Musik auf einer künstlerischen Ebene an.

Ein wahrer Aufreger hingegen ist die hiesige Diskussion um Frei.Wild. Als Fanzine kommen wir an dieser Stelle unserem Auftrag nach und fokussieren uns zunächst nicht auf die Band selbst, sondern auf die dahinterstehende Anhängerschaft. Der Jugendkulturforscher Klaus Farin hat in einer über zwei Jahre angelegten Fanstudie zu diesem Thema insgesamt 4.000 Fragebögen ausfüllen lassen und zahlreiche, autobiographische Interviews geführt. Hieraus geht hervor, dass sich in der verrufenen Szene durchaus viele progressive und liberale Kräfte bewegen. Die prozentuale Ablehnung rechtspopulistischer Kreise stand zum Zeitpunkt der Erhebung, statistisch betrachtet, mit dem gesamtgesellschaftlichen Wert durchaus in Einklang.[4] Einige führen in autobiographischen Interviews Frei.Wilds Schaffen als Denkanstoß an, sich aus der rechtsextremen Szene losgesagt zu haben.[5] Als sonstige Lieblingskünstler werden neben den Böhsen Onkelz u.a. die Toten Hosen oder auch mit etwas Abstand die Ärzte benannt. Mit diesen Erkenntnissen stellt sich die Kernfrage der Diskussion: Wie schaffen es in Verruf geratene Künstler, das gesamte demokratische Spektrum zu erreichen? (Anm. d. Redaktion: vereinfachend wird die Grauzone im Folgenden mit Frei.Wild als wohl umstrittensten Vertretern dieser Szene gleichgesetzt).

Es mag daran liegen, dass sich ein Großteil der Songs um zwischenmenschliche Gemütswelten und Alltagsthemen dreht. In welchen Situationen ist der Kontakt entstanden und wie wird dieser weiter vertieft? Vielleicht sogar trotz anderslautender, politischer Meinung? Wo liegt der Unterschied zwischen einer nüchternen Deutung aus der Distanz und der emotionalen Rezeption der Fans? Verflossene Lieben, eiserne Freundschaften (Parallelen zum Schlager), das Handwerk und/oder Eskapaden vom letzten Auswärtsspiel seien stellvertretend benannt. Wen raue Gesangsspuren mit Mitsingcharakter packen, der wird sich möglicherweise angesprochen fühlen. Herausgelöst aus dem weiteren Backkatalog vergleiche man Songs wie „Auswärtsspiel“ (Die Toten Hosen) mit „Das Stadion brennt“ (Unantastbar). Programmatisch stehen sich Betontods „Auf eine gute Zeit“ und der Onkelz-Klassiker „Auf gute Freunde“ durchaus nah. „Deine Schuld“ (Die Ärzte) war und ist merkwürdigerweise im Standardrepertoire rechter Kundgebungen, was den Überlegungen weitere Würze verleiht. Die Band bezog zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum wiederholten Male Stellung, ist der Resignation in dieser obskuren Angelegenheit allerdings nah.[6] Doch wo liegt nun eigentlich der Unterschied zwischen politischem (Punk-)rock und der viel heraufbeschworenen Grauzone, die sich selbst in aller Regelmäßigkeit als „Deutschrock“ tituliert. Speziell, nachdem man festgestellt hat, dass die musikalischen Unterschiede teils marginal sind und beide Genres kaum mit überraschenden Klangexperimenten aufwarten können. Im Punkrock steht seit jeher fest, gegen wen man sich wendet, was man nicht sein möchte. Zwischen Kapitalismuskritik, einer pazifistische Grundausrichtung und dem FfF-Vibe ist ein eindeutiges Wir-/Die-Verständnis erkennbar. Ein ebenso ausgeprägtes Protestlevel findet sich auch bei den allseits umstrittenen Künstlern wieder, hier lassen die Texte allerdings Interpretationsspielraum. Während man sich wiederkehrend von rassistischen und/oder fremdenfeindlichen Tendenzen lossagt, wird beispielsweise die Pressefreiheit als Grundpfeiler der Demokratie massiv angefeindet. Eliten und Systemmedien sind das erklärte Feindbild. Im Jahr 2013 schufen Frei.Wild mit „Die Macht der Medien“ eine Plattform, die guten von schlechtem Journalismus unterscheiden sollte. Unter Angabe der jeweiligen Autoren wurden Artikel verlinkt, die sich dem Bandgeschehen auf vielerlei Weise näherten. Besagte Website ist inzwischen inaktiv, doch es bleibt eine Rhetorik, die den vermeintlich wertekonservativen Rahmen sprengt und an andere politische Gefilde erinnert. Dabei ist Kritik an unsauber recherchierten Medienbeiträgen als solche nicht verwerflich. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob kritische Zeilen unmittelbar als schlecht recherchiert kategorisiert werden oder ob man in der Lage ist, verschiedene Ansichtsweisen im Sinne des Meinungspluralismus aushalten zu können.

Der Musikwissenschaftler Dr. Thorsten Hindrichs hat sich hierzu intensiv mit der lyrischen Ausgestaltung beschäftigt.[7] Strittig ist besonders der Heimatbezug, den Frei.Wild federführend geprägt haben. Geht man an dieser Stelle ins Detail, fallen Entwicklungen hin zur allgemeinen Mäßigung auf. Hieß es im Jahr 2001 noch, dass Südtirols Feinde in der Hölle schmoren sollen („Südtirol“), gestaltet sich der Tenor neun Jahre später („Wahre Werte“) folgendermaßen:

„Nicht von gestern, Realisten
Wir hassen Faschisten, Nationalsozialisten
Unsere Heimat hat darunter gelitten
Unser Land war begehrt, umkämpft und umstritten
Patriotismus heißt Heimatliebe
Respekt vor dem Land und Verachtung der Kriege.“

Weitere 5 Jahre später entfällt gar die geographische Verortung und damit der zelebrierte Lokalkolorit, wie die nachstehenden Zeilen („Es ist nicht viel was es braucht, um glücklich zu sein“) erkennen lassen:

„Es ist nicht nur ein Wort, nein,
auch darf es nicht nur ein Ort sein
Heimat ist, wo das Herz am höchsten schlägt.“

Reden wir also von der Anschlussfähigkeit einzelner Formationen, müssen lyrische Entwicklungen notwendigerweise einbezogen werden. Diese können, abhängig vom verbalisierten Inhalt, in entgegengesetzte Richtungen laufen. Mäßigung und gezielt gesetzte Provokation zur selben Zeit, eine weitere Komplikation. Der unlängst veröffentlichte Song „Zensurfaschismushasser“ (Philipp Burger, Frei.Wild) liebäugelt mit Leugnern der Corona-Krise (O-Ton: individuelle Meinungen sind gleichbedeutend mit wissenschaftlichen Erkenntnissen), was durch die visuelle Aufbereitung im Musikvideo weiter verstärkt wird. Einblendungen von umstrittenen Personen des öffentlichen Lebens sind bewusst gewählt und sollen Reichweite generieren. Im Allgemeinen empfiehlt sich daher die einzelfallbezogene Betrachtung der vermeintlich involvierten Bands. Während manche Szenevertreter die zuvor beschriebenen Themenfelder geflissentlich beackern und wahlweise mit Verschwörungsmythen (z.B. Chemtrails oder die 9/11-Geschehnisse in „Geld regiert die Welt“ (BRDigung)) und/oder ultrakonservativen Weltbildern anreichern, scheinen sich andere ihrer Verantwortung (speziell bei jugendlichem Publikum) durchaus bewusst zu sein. Sie mögen ebenfalls konservativ anmutende Anschauungen transportieren, jedoch frei von geschichtsvergessenden Vergleichen oder rechtsgerichtetem Protest. Stellenweise gar mit humoristischen Ansätzen, wie das „Kind aus Hinterwald“ (Kärbholz) beschreibt:

„Du fragst dich, ob wir hier schon Strom haben
Warum wir hier Bart und kariertes Flanell tragen
Weil die Winter hier hart sind auf'm Land
(…)
Es gibt hier Dörfer, die im Winter nicht erreichbar sind
Hier haben die Kinder nur zwei Namen
Müller oder Schmidt
Okay ich weiß jetzt auch nicht, ob das so gute Eigenwerbung ist, du siehst
Es ist nicht alles perfekt, aber einiges schon“

Das „Kind aus Hinterwald“ versteht besser, wer den bandeigen gesetzten Rahmen kennt und besagte Zeilen somit vor dem Hintergrund weiterer Texte („Falsche Alternativen“, „Timmi halt´s Maul“ oder „Kein Rock´n´Roll“, siehe unten) einsortieren kann:

„Glaube und Tradition und eure Liebe zur Heimat
Diesen kleinen Fleckchen Erde, das ihr alle so gernhabt
Lass mich gehen, weil ich jetzt hier raus muss
Ihr habt keinen Platz in meinem Kosmos
Und eure Gleichgültigkeit gegenüber diesen Pennern
Braune Scheiße, verpackt in zweideutigen Liedern
Am Ende wird man ja wohl noch sagen dürfen
Dass wir dieses Land so unendlich lieben
Ja, das dürft ihr auch
Scheißt euch mal nicht ein
Habt ihr nicht mehr zu sagen? Ihr tut mir leid“

Ihr Verhängnis: Sie teilen die Bühnen mit den Streitbaren und werden somit vorsortiert, ohne zwingend für Skandale gesorgt zu haben.  Dieser Handhabe erteilt der Filmregisseur Dietmar Post, u.a. an „Deutsche Pop Zustände - Eine Geschichte rechter Musik“ beteiligt, im Angesicht vieler Streitigkeiten um Festival-Line-Ups (Spirit From The Streets 2017)[8] und Musikpreise (Echo 2016)[9] eine Absage und plädiert auf eine sachliche Auseinandersetzung, die kontroverse Diskussionen durchaus miteinschließt.[10] Ein Mechanismus, der Künstler X diskreditiert, weil er vor Y Jahren mit Band Z die Bühne geteilt hat, ist gefährlich und befeuert Opfermythen. Kein Szenario, das dem ohnehin aufgeladenen und oftmals plakativen Diskurs Tiefgang verleiht. Gleichwohl kann dieser Text weder als Absolution für, noch als Schuldspruch gegen die aufgeführten Formationen dienen. Popkulturelle Massenphänomene bewegen sich in Widersprüchlichkeiten und lassen keine unmittelbaren Rückschlusse auf die Gesinnung der jeweiligen Hörerschaft zu. Er sensibilisiert vielmehr für kritische Themenbereiche und zeigt, an welchen Indikatoren Unterschiede in der Rockmusik festgemacht werden können.

Zum Abschluss wird auf die hier verlinkte Review zur neuen Platte der Band Hämatom verwiesen. Auch die fränkische Metalband sah sich eine Zeit lang mit irrtümlichen Verortungen konfrontiert, konnte sich aber nach unmissverständlichen Interviews[11] und Songtexten („Fremd“ oder „I Have A Dream“) sprichwörtlich freischwimmen. So kann es gehen.

[1] https://www.metal-hammer.de/nazis-raus-appell-stephan-weidner-bezieht-stellung-365149/ - Aufruf am 21.11.2021

[2] https://m.facebook.com/broilers/posts/10152159758255851/?locale=es_LA&_rdr – Aufruf am 21.11.2021

[3] https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Stripped-Rammstein-provoziert-mit-Nazi-Video-auf-Youtube-id54295141.html - Aufruf am 01.12.2021

[4] Farin, Klaus; „Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten“, Seite 284 – 286

[5] Seite 339 - 351

[6] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/die-aerzte-im-interview-ueber-ihr-neues-album-dunkel-17545793.html - Aufruf am 21.11.2021

[7] https://www.br.de/puls/musik/aktuell/deutschrock-goitzsche-front-freiwild-haudegen-100.html - Aufruf am 21.11.2021

[8] https://m.facebook.com/spiritfromthestreet/posts/10154852736846125 - Aufruf am 28.11.2021

[9] https://www.spiegel.de/kultur/musik/echo-frei-wild-als-beste-rock-alternative-band-ausgezeichnet-a-1086053.html - Aufruf am 28.11.2021

[10] https://www.vice.com/de/article/qkzbn5/festival-absagen-bei-bohsen-onkelz-und-co-die-diskussion-um-grauzonen-deutschrock-2017 - Aufruf am 21.11.2021

[11] https://www.xn--bckstage-0za.ch/music/interviews/ein-song-muss-durch-die-gesamte-h%C3%A4matom-ohrenpr%C3%BCfung - Aufruf am 30.11.2021