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Das Geschäft, das von der Hoffnung lebt

Sonntagmittag, strahlender Sonnenschein, für die Jahreszeit etwas kühl, vollkommen egal! Das Trikot ist übergezogen, der Schal um den Hals. Alles in Rot und Schwarz, den Farben meines Vereins. Und dann erschallt unsere Hymne. Meinem Kumpel kommen beinahe die Tränen, auch während des Spiels ist er kaum zu halten. Er singt ohne Unterlass und fällt in die Sprechchöre ein. Nach dem Spiel wusste er aber auf meine Frage auch keine Antwort: „Warum singst du, wenn du im Stadion bist?“

Es ist wohl ein Geschäft, das von der Hoffnung lebt. Dass die Mannschaft besser spielt, wenn ein paar Tausend mehr oder weniger betrunkene Menschen singen, rufen, klatschen, trommeln, jubeln, anfeuern oder den Gegner kompromittieren. Dabei wird daraus ein immer größerer Kult gemacht. Da sind beispielsweise die Capos, die beinahe das ganze Spiel ins Publikum schauen, um die verschiedenen Gesänge oder Sprechchöre via Megafon zu initiieren. Aber wofür das Ganze? Dafür lohnt sich ein Ausflug in die Geschichte des Themas.

Es ist eine Urban Legend, die Rogan Taylor, Gründer der Football Supporters Association (kurz FSA), mit Leidenschaft erzählt. Es ist ein komplett vernebelter Tag. Umso erstaunlicher, dass der Schiedsrichter im Stadion an der Anfield Road das Spiel überhaupt anpfeift. Die Stimmung ist überschaubar, bis sich plötzlich ein Raunen zu vorsichtigem Jubel ausbreitet. Die berühmte Tribüne in Liverpool, der Legendäre Kop, kann gerade noch erkennen, dass Spieler des FC Liverpool den Ball in den Mittelkreis tragen und das andere Team den Anstoß durchführt. Es war klar, dass getroffen wurde, aber wer hatte getroffen? So stimmte der Kop kollektiv an: „Who scored the Goal? Who scored the goal?“ Daraufhin antwortete die Nebelwand in Form der anderen Hinter-Tor-Tribüne: „Hateley scored the goal! Hateley scored the goal!“ Gemeint war Liverpool-Stürmer Tony Hateley.

Diese Geschichte geschah rund fünf Jahre, nachdem sich die Liverpooler Fan-Gemeinde „You'll Never Walk Alone“ von Gerry and the Pacemakers angeeignet hatte und es zu einer DER Fußballhymnen unserer Zeit gemacht hatte. Beim Thema Fangesänge hat es sich seitdem immer gelohnt, nach England in die Premier League zu schauen. Die Fans machen sich seit Jahrzehnten einen Spaß daraus, aktuelle und vergangene Popkultur in passende Chants umzuwandeln - oftmals in die Unendlichkeit geschmacklos. Der absolut widerwärtige Antisemitismus der Chelsea-Fans, mit dem „nur“ die Fans der Tottenham Hotspurs beschimpft werden sollen, da diese mit der „Yid Army“ eine besonders große jüdische Fangemeinde hatte, soll mal außen vor gelassen werden. Die anderen Beispiele sind aber auch nicht viel geschmackvoller. Haben die Fans des zeitweise stark dominierenden Manchester United den Fans des unterlegenen Clubs gerne aus Monty Phytons "Leben des Brian" „Always look on the bright side of life“ als Erniedrigung gesungen, antworteten diese gerne mit „Always look on the runway for ice“ - eine Anspielung an den Flugzeugabsturz 1958 in München, bei dem acht Spieler von United ums Leben kamen.

Ein Beispiel eines ziemlich derben Fangesangs, der gleichzeitig die rasante Kommerzialisierung des Fußballs verdeutlicht, liefern die Fans des FC Wimbledon. 2003 meldete der FC Wimbledon Insolvenz an, ein Investor rettete den Verein vor der Pleite, siedelte ihn aber ins 100 Kilometer entfernte Milton Keynes um, um ihn besser vermarkten zu können. So verloren die Fans ihren Markenkern, hatten sie sich schließlich in Wimbledon immer als „Edelfans“ profiliert. Plötzlich ergab ihr berühmtester Fangesang nicht mehr all zu viel Sinn. Der Champagner-Song wurde von vielen in der Liga als Schandfleck bezeichnet, die Fans singen ihn noch heute: „Wir trinken Champagner und schniefen Koks und wir haben echte Ladies hier drüben! Ihr habt beschissene Jobs und schändet eure Hunde und eure Frau geht auf den Strich.“

Dieses Video ist kein von der Redaktion erstelltes Ranking, sondern nur eine beliebige Sammlung von Beispielen britischer Fußball Chants.

Doch die englische Fanszene, nicht zuletzt der gesamte Fußball, bekam 1989 einen harten Schlag verpasst. Es kam Hillsborough. Bei einer Massenpanik im Stadion in Sheffield sterben fast 100 Menschen und mehr als 700 werden verletzt. Daraufhin wird der „Taylor Report“ in Auftrag gegeben, der den angeblichen Kern des Übels im Keim ersticken sollte: den Hooliganismus. Der hatte mit der Katastrophe nichts zu tun, aber Lord Taylor und Premierministerin Thatcher waren seit jeher große Feinde des Volkssports der Briten. Dass nicht die Fans an der Tragödie die Schuld trugen, wurde erst 27 Jahre später festgelegt, doch dieses Thema würde viele weitere Kolumnen füllen. Fakt ist: Hillsborough war der willkommene Anlass hart durchzugreifen und tiefschürfende Veränderungen für die Fans zu treffen. Und so wurden in allen großen Stadien des Landes die Stehplätze abgeschafft und weitreichende Sicherheitsvorkehrungen eingeführt. Allerdings war die Umwandlung in reine Sitzplatzstadien ein harter Schlag. Rogan Taylor von der FSA (die Namensgleichheit mit dem Report ist für ihn besonders niederschmetternd) hat dafür keinerlei Verständnis. „In der Kirche steht man zum Singen auch auf. Allein schon aus anatomischen Gründen.“ Und das ist gar nicht soweit hergeholt. Man merkt einen deutlichen Unterschied zwischen den Gesangsleistungen in „Sitzplatzstadien“ und „Stehplatzstadien“. Der Vergleich kann leicht getroffen werden. Man muss nur die Stadien mit hohem und mit niedrigerem Sitzplatzanteil in Deutschland vergleichen.

Aber die Frage ist immer noch nicht geklärt. Warum wird gesungen? Warum glauben über 80% der Bundesligaspieler an einen Heimvorteil? Der Sportwissenschaftler Bernd Strauß fällt ein ernüchterndes Urteil: "Das Wesentliche ist der Glaube daran, dass es einen Heimvorteil gibt.“ Es ist also alles nur Placebo? Ganz so schlimm ist es dann doch nicht, sagen die Musikwissenschaftler Reinhard Kopiez und Guido Brink, die dem Thema Ende der 90er ein hervorragendes Buch widmeten. Sie unterscheiden bei den Fans vier Beweggründe: Anfeuern der Mannschaft, Huldigung und Ehrung von Spielern und oder Verein, ein Ventil für Anspannung oder aber die Schmähung von Spielern, Vereinen oder anderen Personen, wie zum Beispiel dem Schiedsrichter. Ein herrliches Beispiel, wie das Motiv der Schmähung perfekt in Szene gesetzt wurde: „Schiri, wir wissen wo dein Auto steht! Gaudino hat's, Gaudino hat's.“ Das wurde zu einer Zeit vorgetragen, als gegen den Frankfurter Spieler Maurizio Gaudino wegen Autoschieberei ermittelt wurde.

Aber trotzdem sieht man sie am Wochenende zu Tausenden. Fans. Mal mehr, mal weniger verkleidet. Geschminkt oder ungeschminkt. Und auch wenn im Stadion, besonders in den Stehplatzblöcken, meist heterogene Gruppen aus den verschiedensten Gesellschaftsgruppen stehen, sind sie alle verbunden. Und nicht mal unbedingt durch die Liebe zu einem Verein. Sie sind verbunden durch ein starkes Gefühl. Und dieses Gefühl ist wahrscheinlich der wichtigste Grund für das Singen im Stadion. Das Gefühl, durch das Singen gemeinsam zu wachsen und im großen Chor größer zu werden als der Andere. Denn durch das gemeinsame Singen entsteht ein "Wir" und damit auch ein "Die". Und dazu kommt eben, dass die meisten Fans gar nichts von Kopiez, Brink, Strauß und wie die ganzen Experten heißen wissen, und sich sicher sind, dass sie ihr Team zum Sieg singen können. Und ich muss ehrlich sein, am Ende singe ich selber mit. Und jetzt alle: „Die Legende lebt...“