Mein Leben als Nine Inch Nails-Fanboy

Die Begriffe Fanboy oder Fangirl werden eher abwertend genutzt. Zumeist, um Menschen zu beschreiben, deren einziges Persönlichkeitsmerkmal zu sein scheint, Künstler X oder Band Y zu lieben. Und doch gibt es Menschen wie mich, die sich voller stolz als Fanboy bezeichnen würden.
Joe mit einem NIN-Hoodie an neben seinem Hund

Sollte ich es noch nicht oft genug erwähnt haben, so werde ich es hier noch einmal tun. Ich liebe Nine Inch Nails. Auch mit mittlerweile 31 Jahren bin ich das, was man einen Fanboy (vielleicht eher Fanman?) nennen würde. Nine Inch Nails beziehungsweise Trent Reznor sind essentieller Teil meiner Persönlichkeit. Ich vergleiche beinahe jede Musik die ich höre mit Nine Inch Nails und sollte jemand so verrückt sein und sich mit mir auf eine Diskussion über Musik einlassen, wird es früher oder später um Nine Inch Nails gehen. Ein bisschen wie Murphy’s Law. Nur mit Nine Inch Nails. 

Beginn und Ausprägung der Liebe

Alles begann 2005, als ich zufällig eine CD von Nine Inch Nails gekauft hatte. Ich hatte davor schon Lieblingsbands. Anfangs waren es Die Ärzte oder Die Toten Hosen und später kamen HIM dazu. In meiner Phase in der ich Goth-Rock interessant fand, habe ich den Sonic Seducer gelesen und mit ihrer Story über „With Teeth“ kam ein wenig Interesse an der Band auf. Ich hatte keine Ahnung wie sie klingen, wusste aber, dass Evanescence sie mal erwähnt hatten und so bin ich zu einem namhaften Technikhändler gegangen und habe mir „And All That Could Have Been. Live.“ gekauft. 

Ich habe es gehasst. 

Es war laut, chaotisch und viel zu viel für mich. Ich habe die CD erst einmal weggepackt und beinahe vergessen. Ein paar Monate später sind wir umgezogen und als ich abends in meinem neuen Zimmer saß, griff ich einfach in den Karton und zog zufällig diese CD raus, legte sie in den Player und hörte sie. Ich war verliebt. Es war die richtige Situation und mit einem Mal ergab das alles Sinn. Die Wut und die Verzweiflung war so fühlbar und es hörte sich an, als könnte Reznor meine Gefühlswelt besser beschreiben als ich es hätte tun können. Danach kaufte ich „With Teeth“ und später „Pretty Hate Machine“ und „The Downward Spiral“. Damit begann eine Liebe, die ich nicht für möglich gehalten hatte. 

Mittlerweile besitze ich alle Veröffentlichungen mindestens einmal auf CD, Alben und EPs auf Vinyl und beinahe alle Kassetten der Band und mein Kleiderschrank besteht zu 30% aus Merch der Band. Kaufe ich einen Rucksack oder eine Tasche, wird als erstes ein Aufnäher der Band draufgenäht und so habe ich, selbst wenn ich keinen Hoodie oder Shirt der Band trage, immer die Band dabei, die mir so viel bedeutet. Im Schlafzimmer hängen zwei Poster mit Trent Reznor und eine Flagge mit dem Coverart von „The Downward Spiral“. Über dem Schreibtisch prangt ein Tourposter und im Flur und im Wohnzimmer hängen weitere Poster. Nur in der Küche und im Bad darf ich nichts aufhängen, ansonsten hätte ich das wohl auch getan.

Das Wichtigste ist, dass ich ohne Reznor nie die Frau kennengelernt hätte, die ich heiraten werde. 2013 kam „Hesitation Marks“ raus. Eine Woche vor Release wurde das Album im Netz geleaked und ich saß in Thüringen fest, mit einem schlechten Smartphone und, wenn ich Glück hatte, sehr langsamem Internet. In einer kleinen Fangruppe schrieb sie, dass sie das Album hat und obwohl wir vorher nie geschrieben hatten, schrieb ich sie an und ließ mir die einzelnen Songs beschreiben, bis ich sie abends endlich selbst hören konnte. So lernten wir uns kennen und so hat es mich auch nach Bochum verschlagen. Der Impact, den Nine Inch Nails auf meinen Leben haben, ist zweifelsfrei immens.

Warum liebe ich Nine Inch Nails?

Wie bereits erwähnt hatte und habe ich andere Bands, die ich sehr schätze. HIM haben sich seit 1998 gehalten und Counterparts haben es immerhin schon auf meine Haut geschafft. Reznor schaffte es mit „Hurt“, in meinen Kopf einzudringen. Danach, vor allem durch die späte Pubertät, war Nine Inch Nails der Soundtrack meines Lebens. Aggressive, teils depressive Musik, bei der es mir leicht fiel, mitzufühlen. Diese obskure Angst und die teils unbeschreiblichen gefühlsmäßigen Tiefpunkte, welche in Reznors Worten tatsächlich greifbar sind, fehlten mir im Rest der Musik. Klar, es gab emotionale Musik und als die zweite Generation des Emocore aufkam war ich im richtigen Alter und habe die pathetischen Songs genossen. Aber die Songs von Nine Inch Nails sind roh, brutal und doch zerbrechlich. Eine Gratwanderung, die kaum einem gelingt. 

Auch nach 30 Jahren im Business hat Reznor und damit auch Nine Inch Nails geschafft, relevant zu bleiben. Während die meisten Bands nach einigen Jahren ihren Stil gefunden und ausgebaut haben, ist bei Reznor spürbar, dass er sich immer noch entwickelt. Ein Album, welches klingt als hätten Depeche Mode mit Skinny Puppy eine Jam Session hingelegt? Hat er. Einen Film drehen, der aus einzelnen, teils verstörenden Musikvideos besteht, welcher wie ein Snuff-Film wirkt und die VHS damals eigentlich auch nie für die Öffentlichkeit gedacht war? Hat er. [Ich werde das Video hier bewusst NICHT einbinden. Hier kommt ihr zu einem Text, der die Hintergründe noch ein wenig mehr beleuchtet und auch den Film an sich enthält. Es ist nicht unbedingt für Kinder oder zartbesaitete Menschen geeignet, also seid gewarnt.] Ein Industrial-Rock-Album, welches depressiver nicht sein könnte? Hat er. Ein Album über eine (leider nicht ganz so) fiktive Dystopie im Stile von Orwells „1984“ mit einem alternate reality game, bei welchem USB-Sticks bei Konzerten auf Toiletten gefunden wurden und es versteckte Websites gab, welche die Story des Albums schon ein wenig offenbarten? Hat er. Ein Album mit 36 atmosphärischen instrumentalen Tracks, von denen einer bei „Old Town Road“ von Lil Nas X verbraten wurde und Reznor dadurch einen Country Music Award gewann? Hat er. Diese Liste ließe sich noch ein wenig fortsetzen, aber ich denke man versteht, worauf ich hinauswill. Reznor hat sich nie auf Erreichtem ausgeruht und mich als Hörer und Fan stets gefordert, aber auch belohnt. 

Aber vor allem hat Reznor mir gezeigt, dass es Hoffnung gibt. Egal wie dunkel mein Leben schien, wusste ich, dass Reznor Schlimmeres überstanden hatte und gestärkt daraus hervorging. Auch wenn er mal gesagt hat, dass seine Depressionen nie verschwinden werden, so hat er gelernt damit umzugehen. Sein Umgang mit diesen Problemen und auch seine Art der Verarbeitung, machen ihn zum Vorbild für mich, auch wenn es vermutlich unzählige Musiker (von denen ich auch einige höre) gibt, denen es so geht, so war es eben Reznor, der mich am meisten berühren konnte. Wahrscheinlich hat jeder schon einmal das Gefühl gehabt, ein Song sei nur für einen selbst geschrieben wurden. So ging und geht es mir bei Nine Inch Nails. Die Band beziehungsweise Trent sind immer da, egal wie einsam oder verzweifelt ich mich mal fühlen sollte. Die Musik ist mehr als nur Musik für mich.

Fanboy = blinde Gefolgschaft?

Fanboys und -girls wird oft vorgeworfen, ihren Idolen blind zu folgen. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ich kenne einige Fans von Reznor, die trotz ihrer immensen Liebe auch die Fehler sehen, die er macht. Ich bilde da keine Ausnahme. Ich hinterfrage Aussagen und Taten Reznors und finde auch nicht alles gut, was er tut oder sagt. Der Score für die Watchmen-Serie wurde auf drei Vinyls veröffentlicht und jede einzelne kostete 30 britische Pfund. Einen Download gab es nicht dazu. Rief Reznor vor einige Jahren noch seine australischen Fans dazu auf, seine Musik illegal runterzuladen, weil seine Plattenfirma zu hohe Preise verlangen würde, sind die Preise im offiziellen Nine-Inch-Nails-Shop teils recht heftig und das ohne ersichtlichen Grund. Genauso verstehe ich nicht, wieso jemand mit seiner Größe und Reichweite noch immer Shirts ohne Ökozertifizierung verkauft. Preislich würde sich in seinem Shop nicht viel ändern müssen, da die Shirts schon einen stattlichen Preis haben. Er könnte einen Unterschied machen und tut es bisher leider nicht.

Als Trent Reznor damals für PETA ein Video gegen Pelze machte, fand ich das gut. Dass er nach wie vor Leder trägt und noch nicht einmal vegetarisch lebt (zumindest nicht dass ich wüsste - es gab einige Jahre nach dem Video mal ein Interview, in welchem er gefragt wurde, ob er vegetarisch lebt und er verneinte es), finde ich beinahe schon heuchlerisch. Als Veganer versuche ich Tierleid zu vermeiden wo es nur geht und kann nicht wirklich nachvollziehen, wieso man Pelzfarmen in China verurteilt und von der industriellen Fleischproduktion profitiert. Allerdings wäre die Anzahl der Musiker, die ich für ihre Musik UND ihren Lebensstil mögen darf, sehr limitiert. An dieser Stelle trenne ich Kunst und Künstler dann doch. Auch ich war nicht immer Veganer und der Einfluss auf seine Musik ist bei diesem Thema nicht existent. Er hasst Trump und ist politisch eher links bis liberal und so lange er sich nicht rassistisch äußert, kann ich seinen Lebensstil ignorieren.

Wie jeder halbwegs exzentrische Rockmusiker wie beispielsweise Maynard James Keenan, hat Reznor natürlich auch eine teils toxische Fanbase. Im Nine Inch Nails-Subreddit verkehre ich deutlich seltener als im dazugehörigen circlejerk-Subreddit, da die Leute dort deutlich reflektierter sind und die Gate-Keeping-Attitüde dort eher belächelt als gelebt wird. Das Problem ist, dass Nine Inch Nails einen recht eigenen Sound haben und Fans dieser Musik sich irgendwie dazu berufen fühlen, andere Musikgenres oder Bands zu verurteilen. Ich versuche Menschen eher davon zu überzeugen sich die Band einmal anzuhören, als sie mit meiner Arroganz abzuschrecken, aber wie bereits erwähnt sind toxische Fans ein weitverbreitetes Problem, welches mich zum Beispiel auch jahrelang davon abhielt Tool zu hören. Allerdings wäre es falsch, Reznor für seine Fans verantwortlich zu machen. Trent hat früher auch mal im offiziellen nin.com-Forum verkehrt, welches es mittlerweile nicht mehr gibt, zog sich dann aber wegen der Stimmung zurück. Mittlerweile weiß man, dass er im inoffziellen Fanforum aktiv ist, da er vor der Veröffentlichung von "Bad Witch" einen Fan, der sich darüber beschwerte, dass Reznor "Bad Witch" als Album und nicht als EP veröffentlichen würde, dazu aufforderte, seinen "entire cock" zu "sucken". Er selbst hasst diese Fans, was ihn ja eigentlich nur sympathisch macht.

Was haben Nine Inch Nails von meinem Fanboy-Sein?

Nine Inch Nails bzw. Trent Reznor haben von mir vor allem eines - Geld. Ich habe Unsummen in Merch, Tickets oder eben Medien ausgegeben und damit vermutlich schon das College eines der Reznor-Kinder gezahlt. Außerdem habe ich etliche Menschen dazu überredet mal in die Band reinzuhören und einige davon sind auch Fans geworden und somit Mitfinanzierer der Band. Außerdem weiß die Band (also eigentlich weiß sie es nicht, aber naja...), dass sie auch bei Veränderungen des Stils immer einen treuen Unterstützer hat. Ich glaube die meisten Bands verlieren im Laufe ihrer Karriere Fans und gewinnen andere dazu. Aber was kleinere Bands (zu denen Nine Inch Nails nicht zählen) über Wasser hält, sind die treuen Fans, die auch einen Stilwechsel mitgehen. Mir gibt er gute Musik und ich ihm mein Geld. Fairer Deal würde ich sagen.

Wie äußert sich mein Fanboytum?

Online findet man mich, wenn nicht mit meinem echten Namen, immer mit einem Nick mit Anspielung auf meinen Lieblingssänger. Ich betreibe eine Photoshop-Seite, auf der ich, zusammen mit einer Person aus dem großen NINforum, Reznor überall einsetze und mache seit einiger Zeit Vaporwave mit NINsongs und Reznor-Zitaten. Mittlerweile sogar auf Kassette, aber das nur nebenbei. Auf dem nincirclejerk-Subreddit liebe ich es Shitposts zu machen und für die Fanseite meiner Freundin, die ich vor einigen Jahren gegründet habe und ihr dann überließ, da ihr Gespür für guten Content einfach besser ist, sorge ich für regelmäßigen Meme-Nachschub. Auch freue ich mich immer noch darüber, bei Facebook mit Trent Reznor befreundet zu sein. Davon habe ich nichts und ich teile diese Ehre mit 4081 Anderen, aber es waren mal deutlich mehr. Vermutlich liegt es daran, dass ich Reznor eben nicht ständig verlinke oder ihm dämliche Nachrichten schreibe. Dieses Verhalten gibt es ja sonst recht häufig bei Fanboys und -girls. Einer meiner Lieblingsaccounts bei Instagram kommentiert beispielsweise ständig unter Posts von Reznor oder Nine Inch Nails, wie sexy Reznor doch sei. So sehr ich den Kanal mag, so unnötig empfinde ich dieses Verhalten und lasse Reznor einfach in Ruhe.

Wenn es ein neues Album gibt, fahre ich auch morgens um 4 Uhr den Rechner hoch und kaufe es, um es auf dem Weg zum Frühdienst noch zu hören. Selbst wenn ich knapp bei Kasse bin, zahle ich die frechen Preise für neue Vinyls ohne zu zögern und für meine Kassettensammlung habe ich teilweise 150€ für ein Tape bezahlt. Ich weiß, dass es dämlich ist, ein 30 Jahre altes Medium zu kaufen, welches klanglich einfach nicht gut ist, aber es war mir wichtig. 

Auch zieren mittlerweile vier Tattoos mit Logos oder Songtiteln der Band meinen Körper und ich bereue kein einziges davon (und hoffe auch stetig, dass Reznor mir keinen Grund gibt, dies je zu tun). Also mache ich selbst nackt Werbung für diese Band, auch wenn die einzige Person die mich nackt sieht auch ein NIN-Tattoo hat. 

Letztlich lässt sich die Frage, wie sich mein Fanboytum äußert, recht einfach beantworten. Nine Inch Nails ist essentieller Teil meines Lebens und wird es wohl, zu einem gewissen Grad, immer bleiben. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die wütend werden, wenn jemand meine Lieblingsband beleidigt. Der Podcast von „Your Favorite Band Sucks“ zu Nine Inch Nails hat mich beispielsweise sehr gut unterhalten. Das einige, was mich nach wie vor wütend macht, ist die Tatsache, dass es immer noch Menschen gibt, die Johnny Cash für den Schreiber von "Hurt" halten. Nicht zu wissen, dass es ein Cover ist, ist okay, aber diesen grandiosen Song hat der Countryboy eben nicht geschrieben, sondern nur gecovert. Niemand muss lieben, was ich liebe.  Niemand muss es verstehen.

Aber für mich wird Reznor wohl immer unerreicht bleiben.