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Polyphia und „Remember That You Will Die“: Keine Zeit zum Sterben

Vor vier Jahren bewiesen Polyphia, dass die Zukunft der Gitarrenmusik in der Ablösung spießiger Aktualitätsverweigerung liegt. „Remember That You Will Die“ will auf diesen neu gewonnen Stärken aufbauen – und vollendet das sehr souverän.

Wer Polyphias „New Levels New Devils“ 2018 in voller Tiefe durchstiegen hatte, der konnte nicht ganz zu Unrecht dazu verleitet sein, hier von einer geradezu historischen Zäsur für gitarrenzentriete Musik zu sprechen, denn so Vieles an diesem Projekt war derartig unwahrscheinlich. Plötzlich gab es da eine Band, die Instrumentalmusik abseits von Lofi-Lernplaylists und Ludovico Einaudi machte, die eine breite Masse an Menschen wertschätzte. Polyphia schrieben Songs, die in Anlehnung an das laufende Hip-Hop-Zeitalter auf Beats und Samples basierten und von denen Mastermind Tim Henson erklärte, sie wären zum Beispiel sehr komplexe Dekonstruktionen eines Jaden-Smith-Songs. „New Levels New Devils“ versammelte in seinen Tracks die abgefahrensten Progressive-Melodieabenteuer, die es auf irgendeine unerklärliche Art und Weise dennoch fertigbrachten, derartig catchy zu sein, dass sich eine riesige Gemeinde junger Instrumentalist:innen kollektiv die Finger brach, während sie versuchten, „G.O.A.T.“ nachzuspielen. Kurz: Polyphia hatten die Gitarre und Instrumentalmusik generell derartig neu und gleichzeitig so gnadenlos zeitgenössisch gedacht, dass sich eigentlich alles Vergleichbare zukünftig daran messen lassen müsste.

Eine richtiggehende musikalische Zäsur über den Kosmos der Band hinaus einzuleiten blieb „New Levels New Devils“ dennoch vorenthalten, wohl auch, weil es auf der Welt mit Sicherheit nicht viele Musiker:innen gibt, die dem technischen Niveau von Henson und seinen Mitstreitern auch nur ansatzweise das Wasser reichen können. Und doch hat der Nachfolger „Remember That You Will Die“ die große Aufgabe, in die Fußstapfen eines Meilensteins zu treten. Polyphia lösen diese Aufgabe einerseits, indem sie mehr vom Gleichen anbieten und dabei immer wieder aufhorchen lassen, dass das Grundrezept des letzten Albums noch lange nicht auserzählt ist. Es ist bemerkenswert, dass es dieser Band gelingt, mit „Playing God“ einen instrumentalen Track abzuliefern, der alle Qualitätskriterien für einen der Hits des Jahres einlösen kann. Vor allem zeigt die Band hier etwas, was sie über den Lauf ihrer neuen Platte immer wieder demonstriert: Es ist gerade der Einfluss neuer Klangfarben, der beim Erschließen neuer Varianzen hilft. So beherbergt ebenjene erste Single der Platte zum Beispiel mittendrin einen Bossa-Nova-Part, in dem sich die Band im Dienste des Sounds angenehm zurücknimmt – erstaunlich, wie mühelos sich dieser Akzent in das Gesamtwerk einzuordnen weiß. Wie selbstsicher Polyphia sich in ihrem ganz eigenen Kosmos bewegen, wird schon im Intro der neuen Platte dar, das als Eigenzementierung ein Selbstzitat aus dem Intro des Vorgängers enthält.

Hervorstechend ist an „Remember That You Will Die“ die deutlich ausgeprägte Arbeit mit vielen Featuregästen, die dieses Mal nicht hauptsächlich Instrumentalist:innen, sondern Sänger:innen sind. Hier begeben sich Polyphia auf ein Terrain, das sich als nicht ganz unproblematisch erweist. Bei „So Strange“, dem einzigen Song mit Gesang auf dem Vorgänger, hatte sich die Gruppe um ein fein austariertes Wechselspiel bemüht: Die Gesangsteile waren inmitten einer trotzdem größtenteils instrumentalen Komposition zwischenzeitliche Akzente gewesen, in denen kurzzeitig das ausgesprochen komplexe Spiel der Instrumente zurücktrat, um der Eingängigkeit der Hook Raum zu lassen. Auf „Remember That You Will Die“ gibt es nun aber eine ganze Reihe von Tracks, die den Anspruch haben vollwertige Songs zu sein, was zu ambivalenten Ergebnissen und Lösungen führt. Während zum Beispiel "Chimera" mit Rapper Lil West die Balance gut hinbekommt, wirkt "Memento Mori" im Konflikt zwischen komplexem Instrumentalspiel und gleichzeitigem Gesang einfach nur überfrachtet. "ABC" versucht hingegen, den Irrwitz der Instrumentals auch in die Gesangsmelodie zu bekommen. Dass Sängerin Sophia Black dabei das gesamte ABC in Sekunden aufzusagen versucht, ist aber lange nicht so elegant wie Tim Hensons mühelose Virtuosenläufe. Und wenn Polyphia versuchen, einfach nur einen guten Song ohne abgefahrenes Instrumental zu schreiben, dann treten sie eigentlich hinter ihre eigenen Möglichkeiten zurück. Lösbar scheint diese Zwickmühle kaum und es täte der Band besser, ihre eigentlichen musikalischen Persönlichkeitsmerkmale wieder stärker in den Fokus zu treten. So bleibt eine Platte, die gespannt auf die Zukunft macht und erneut viele herausragende Kompositionen hält, die nur insgesamt ihren Vorgängern nicht ganz das Wasser reichen können.

Fazit

7.5
Wertung

Polyphia sind eine Offenbarung und das bleiben sie auch mit dieser Platte. Nur die Tendenzen für die Zukunft, die dieses Album andeutet, bereitet mir Sorgen – hoffen wir, dass diese Band sich nicht zu schnell auserzählt.

Jakob Uhlig
7
Wertung

Polyphia hätten für meinen Geschmack an den Gesangsfeatures auf "Remember That You Will Die" sparen können, fügen die doch großteils nichts substanzielles zum Mix hinzu. Das Album bleibt dennoch eine virtuose Darstellung musikalischen Könnens, ohne dabei in irgendwelche Progmetal-Fettnäpfchen zu treten - vom etwas cheesigen Steve-Vai-Solo im Closer mal abgesehen.

Kai Weingärtner