Kolumne

Steffens Jahresrückblick 2020

Wahrscheinlich ist jede:r froh, ein Jahr wie dieses einigermaßen heil überstanden zu haben. Warum also zurückschauen? Na ja, es war ja nicht alles schlecht. Die Musik zum Beispiel.

Weite Teile dieses Jahres könnte man mit Courtney Barnetts „Sometimes I Sit And Think And Sometimes I Just Sit“ überschreiben. Bei mir war das viel zu oft vor dem Rechner und viel zu selten vor dem Plattenspieler (und noch seltener auf Konzerten, aber reden wir da nicht weiter drüber). Dennoch hat sich so einiges getan, in der Welt und auch bei mir persönlich. Zum Beispiel bin ich jetzt Mitglied dieser wunderbaren Redaktion.

Album des Jahres

Mit dem Titel ihres dritten Albums haben Algiers geradezu prophetisches Gespür bewiesen. Als es am 17. Januar erschien, hätte wahrscheinlich niemand vermutet, was für ein passendes Motto „There Is No Year“ sein wird. Dazu die Texte, in denen Franklin Fisher mit an postkolonialer Theorie geschultem Blick ein Amerika zwischen #MAGA und #BLM analysiert, ohne dabei akademisch zu werden. Vielleicht ist „There Is No Year“ sogar das bisher zugänglichste Album der Algiers, deren Sound mit Einflüssen aus Soul, Industrial und Punk mich trotzdem immer noch überrascht und fasziniert.

Konzert des Jahres

Gemeinsam mit ein paar hundert anderen Leuten auf engstem Raum zu singen und zu moshen klingt im Dezember 2020 völlig absurd. Und zugegeben, schon Anfang März war ein ausverkauftes Konzert zu besuchen eigentlich schon keine gute Idee mehr. Trotzdem bin ich froh, kurz vor Beginn der Corona-Maßnahmen noch das Konzert von Turnstile im SO36 in Berlin mitgenommen zu haben. Von der Energie dieses Abends zehre ich wahrscheinlich, bis so eine Show wieder stattfinden kann.

Debütalbum des Jahres

So nervig Werbung auch ist, manchmal entdeckt man dadurch auch großartige Künstler:innen. Ende letzten Jahres wurde mir das Video zu „She Plays Bass“ von Beabadobee in die Timeline gespült. Der Song holte mich durch seinen 90s-Alternative-Vibe total ab. Dementsprechend gespannt war ich auf „Fake it Flowers“, das erste Album der englischen Musikerin. Und ich wurde nicht enttäuscht: Beas Songs lassen an die Smashing Pumpkins, Hole und Pavement denken, aber sind nie bloße Pastiches. Ich bin gespannt, was in Zukunft noch von der erst 20-Jährigen kommt.

Neuentdeckung des Jahres

Im Herbst, als Corona wieder begann, seine virulenten Finger auszustrecken, entwickelte ich ein zunehmendes Interesse an Folk-Punk und ganz besonders an Pat „the Bunny“ Schneeweis. Dieser hat seinen wechselvollen Lebenslauf zwischen Anarchie und Utopie, Drogen und Entzug und vielen verschiedenen Bandprojekten zwischen 2000 und 2016 in Unmengen an Akustik-Songs gepackt. Manche davon sind resigniert und voller Selbshass, andere hoffnungsvoll und träumerisch. Musik für alle Lebenslagen, auch im Lockdown.

Musical des Jahres

Ich bin kein Musical-Fan. Und so ging der erste Hype um Hamilton an mir vorbei. Als allerdings die Aufzeichnung des Broadway-Stücks auf Disney+ veröffentlicht wurde, schaute ich mir die fast 3 Stunden an – und war sofort hin und weg. Das Stück hat ein doch sehr verkopftes Konzept, erzählt vordergründig die Biografie von Alexander Hamilton, dem ersten Finanzminister der USA, aber verhandelt dabei auch Themen wie Immigration und Selbstermächtigung. Autor Lin-Manuel Miranda gelingt es aber, diese in hochemotionale und eingängige Songs zu verpacken, die Einflüsse von Beyoncé bis zu den Beatles verarbeiten und mir noch Wochen später im Kopf rumspuken.