Interview

Trade Winds Jesse Barnett: „Ich würde es akzeptieren, für den Rest meines Lebens allein zu sein.“

Als Trade Wind 2016 ihr herzzerreißendes Debüt veröffentlichten, wirkte Frontmann Jesse Barnett wie ein gebrochener Mann. Auf dem Zweitling seiner Band schimmert drei Jahre später eine neue Hoffnung durch – und die entsteht paradoxerweise aus der Erkenntnis, dass es aus manchem Schicksal kein Entkommen gibt.
Trade Wind

Es ist der 6. Mai 2017. Jesse Barnett hat im Kölner MTC gerade ein Konzert mit seinem Projekt Trade Wind gegeben. Der Stick-To-Your-Guns-Frontmann wirkt müde und geschafft. Auf dem Debütalbum seiner Band verarbeitet er eine schwere Trennung und durchlebt diese auf Tour gerade jeden Abend. Diese Belastung hinterlässt Spuren – Barnett schüttet im Gespräch sein Herz aus und lässt wesentlich tiefer blicken, als man es sonst im Dialog mit einer völlig fremden Person tun würde. Schon damals steckt so viel Kummer in ihm, dass er an das Schreiben einer neuen Platte denkt. Zuerst zögert er, als es um diese Frage geht, doch dann bricht es aus ihm heraus. Barnett spricht unglaublich konkret über persönliche Verluste, die er gerade verarbeitet und wird wohl auch deswegen so emotional, weil er in diesem Augenblick selbst noch nicht so genau weiß, wohin er eigentlich mit seinen Gedanken soll. „Das nächste Album wird wahrscheinlich noch deprimierender als das erste“, sagt er resigniert.

Zwei Jahre später steht Barnett vor dem Hafenklang in Hamburg. Die Hansestadt macht ihrem Ruf alle Ehre und gibt sich schmuddelig grau und windig. Trotzdem wirkt Barnett heute ganz anders als an jenem Abend vor zwei Jahren. Im Gesicht strahlt er mindestens so stark wie sein leuchtend rotes Hemd, das er an diesem Tag trägt. Im Gespräch lacht er immer wieder herzlich und beantwortet jede Frage mit angenehmer Begeisterung. „Normalerweise gibt es in diesen Interviews nur ein paar Fragen, die sich um Trade Wind drehen – danach geht es immer direkt um Stick To Your Guns“, sagt er achselzuckend – zumindest dieses Dilemma hat sich also in den letzten zwei Jahren nicht verändert.

Dass Barnett heute so locker aufspielt, wirkt im ersten Moment auch aufgrund von Trade Winds mittlerweile erschienener, zweiter Platte „Certain Freedoms“ etwas suspekt. Zwar spricht aus dem neuen Album durchaus auch eine neue Ruhe, die der Vorgänger nicht kannte, und doch wirken die Songs darauf nicht gerade wie das Zeugnis eines vollständigen Seelenheils. „Es waren ein paar seltsame Jahre“, resümiert Barnett die vergangene Zeit. „Ich bin eine sehr reflektierte Person und manchmal bin ich von den Dingen in meiner Vergangenheit wie besessen, vor allem dann, wenn ich sie nicht überwunden habe – und das ist bei mir mit vielen Problemen so. Ich singe deswegen manchmal über Sorgen, die eigentlich schon vor Jahren entstanden sind.“ Trotzdem: Ein Wandel in Barnetts mentalem Zustand zeichnet sich deutlich ab, vor allem dann, wenn er über die Person spricht, für die er vor zwei Jahren noch die Rolle als eindeutiges thematisches Zentrum prophezeit hatte. „Jeder Song auf ‚Certain Freedoms‘ handelt spezifisch von einer bestimmten Person, deswegen hat auch dieser Mensch auf jeden Fall seinen Anteil auf der Platte“, beschreibt Barnett die Verhältnisse. „Wenn du zum Beispiel den Song ‚Untitled‘ auf unserem ersten Album hörst, klingt er nach Aufbruch und neuem Leben. Auf der neuen Platte gibt es dann ‚Untitled II‘ und da merkst du, dass alles furchtbar geendet ist. Ich würde aber wohl nicht mehr sagen, dass dieser Mensch das übergreifende Thema des Albums ist.“

Trotz all der beständigen Verlustängste ist das hervorstechende Merkmal von „Certain Freedoms“ aber wohl, dass es viel ausgeglichener als das Trade-Wind-Debüt klingt. Schon der Vorgänger war mit seinen ruhigen bis poppigen Songs arg weit von dem entfernt gewesen, was Barnett bei Stick To Your Guns und Gitarrist Tom Williams bei Stray From The Path spielen. Auf dem neuen Album wird diese Abgrenzung aber noch deutlicher. Die Band treibt immer deutlicher in sphärischen, introvertierten Klanglandschaften, Ausbrüche sind die Seltenheit, brodelnde Wut-Brocken wie „Lowest Form“ von „You Make Everything Disappear“ fehlen ganz. Barnetts Gedankengänge wirken dadurch kontrollierter, aber manchmal auch kämpferisch-aufständisch. Zentral drückt dieses Gefühl besonders die erste Single „No King But Me“ aus, in der Barnett um seine eigene Selbstachtung kämpft. „‚No King But Me‘ handelt von jemandem, von dem ich mich zu sehr habe herumschubsen lassen“, erklärt er die Bedeutung des Songs. „Der Song erinnert mich daran, dass ich trotzdem in Ordnung bin. Es ist egal, ob diese Person jemand Anderen gewählt hat, es ist egal, was sie mir angetan hat. Ich führe mein eigenes Leben. Ich entscheide, was mir passiert.“

Barnett spricht sehr durchdacht und klar strukturiert, während er sich Gedanken über sein eigenes Leben macht. Dadurch wird deutlich, wie sehr sich die Wesensänderung seiner Musik auch in ihm selbst spiegelt. Barnetts neu gewonnene Kraft gibt ihm auch die Möglichkeit, seine Erfahrungen musikalisch an Außenstehende zu richten und sich abseits seiner eigenen Kämpfe auch auf sein Umfeld zu konzentrieren. Der Song „How’s Your Head“ fragt so etwa umsorgend nach dem Befinden eines Freundes. „Wir leben in einem kapitalistischen System, eine Menge Menschen machen sich Sorgen“, kommentiert Barnett den Song. „Viele haben aber nicht den Stolz zuzugeben, wie sich fühlen.“ Aus ihm spricht die Erfahrung, die ihn antreibt, andere Menschen von seinem Schicksal abzuhalten. „Du wirst weiser, wenn du scheiterst. Wahrscheinlich habe ich so viel gelernt, weil mein Leben so eine Reihe von Katastrophen ist.“

Dass Barnett mittlerweile wieder klar denken kann, hat mit einer zentralen Erkenntnis zu tun, die gleichsam tragisch wie mutig ist. „Die Hoffnung entsteht bei mir fast aus der Depression“, beschreibt er mit ernster, aber gefasster Miene. „Ich habe realisiert, dass ich meine Arbeit so sehr liebe, dass ich dafür sogar akzeptieren würde, für den Rest meines Lebens allein zu sein. Vorher habe ich darum gekämpft, meine Arbeit so ausführen zu können wie ich möchte und dabei trotzdem mein Leben mit einer Person zu teilen. Es hat mich viel gekostet, darüber hinwegzukommen. Es ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits akzeptiere ich mein Schicksal, anderseits ist niemand damit zufrieden, allein zu sein.“

Repräsentiert wird Barnetts selbst gesetzte Balance auf dem Albumcover von „Certain Freedoms“. Der darauf abgebildete Ballon wird von zwei Händen mit Hammer und Nagel davon abgehalten, zu hoch zu steigen – ein Prozess, den Barnett nun selbst reguliert. „Wenn wir ehrlich sind, geht es im Leben um Kompromisse – besonders dann, wenn wir von Menschen sprechen, die wir lieben“, meint er. „Ich habe aber einen Punkt erreicht, an dem ich für die meisten Menschen keine Kompromisse mehr eingehen würde. In dem Moment, in dem ich nicht mehr toure, in dem ich keine Musik mehr mache, verfehle ich den Sinn meines Lebens.“

Wenn man über Barnetts Worte nachdenkt, kann man eigentlich kaum anders, als sie gleichsam mit Faszination, aber auch mit Bestürzung aufzunehmen. Doch so, wie der Sänger sie erzählt, sind sie der Ausdruck eines Mannes, der endlich auf dem Weg zu innerer Balance ist. So ist Trade Winds „Certain Freedoms“ zwar noch immer die Abbildung eines Daseins voller Hürden, aber eben auch das Schlupfloch weg von der Verneinung hin zur Akzeptanz der eigenen Prioritäten. Barnett trägt diese Erkenntnis mittlerweile auch demonstrativ an seinem Körper: Die Worte „No King But Me“ prangen sichtbar frisch gestochen auf seinem Hals.