Das Konzept von Konzept-Alben und Konzept-All-Star-Projekten ist – zugegeben – ein heikles Pflaster. Selten bleibt dabei mehr übrig als ein dürres, peinliches Abstraktum dessen, was in den Pressemitteilungen als einzigartig und episch angepriesen wird. Tobias Sammet, Kopf und Songwriter hinter Avantasia, war mit seiner All-Star-Idee also schon 2001 nicht mehr „einzigartig“. Dennoch ist er für mich der Einzige, der ein so durchkonzeptioniertes Musikmachen mit überzeugender Spiel- und Hörfreude auf Platte und Bühne bringt.
„The Scarecrow“ ist der erste Teil einer musikalischen Trilogie, die meine Hörgewohnheiten komplett auf den Kopf gestellt haben. Wer wie ich 3-minütige, rotzige Punkbrecher gewohnt war, wird schon nach den ersten beiden Songs, die bereits 17:30 Minuten verschlingen, die weiße Fahne schwingen wollen. Aber ich war bereit für meine ersten Schritte im Metal, also zog ich es durch. Unzählbar oft.
Die ersten Sekunden des Openers „Twisted Mind“ und deren Riff sind für mich mittlerweile eine ikonisch herangereifte Einmarschmusik bei Prüfungen oder wichtigen Terminen – wer braucht schon „Eye Of The Tiger“? Vor allem die beiden ersten Tracks profitieren von der unbändigen Fülle der Produktion, die keinen Platz für Nichtigkeiten lässt, und es trotzdem schafft, Feinheiten in der Atmosphäre herauszuarbeiten. Diese werden durch die Auswahl der Gastmusiker weiter gefüttert. „The Toy Master“ ist in Stimmung, Text und musikalischem Rahmen der Stimme und dem Ruf von Alice Cooper auf den Leib geschrieben. Dazu auch noch ebenfalls musikgeschichtlich – zumindest im klassischen Heavy Metal – herausragende Stimmen wie Michael Kiske (damals Ex-, heute wieder Helloween) und Bob Catley (Magnum) geschmeidig in das Gesamtwerk einzuflechten ist Sammet an Perfektion grenzend gelungen.
Auch im Text lässt sich erfolgreich tiefer nach weiterführenden Interpretationen, mit oder ohne Instrumentalisierung buddeln. Mit der Scarecrow-Trilogie habe ich das tatsächlich auch getan. Ich bin der erzählten Geschichte des Albums mithilfe des Booklets, Interviews, Text, Instrumenten, Musikerauswahl akribisch nachgegangen und könnte jetzt sicherlich großzügig darüber referieren. Wer Bedarf danach verspürt, darf sich gerne melden.
Egal ob mit oder ohne Hintergrundwissen ist insbesondere „The Scarecrow“ und das gesamte Avantasia-Universum eine leicht zugängliche und gleichzeitig sehr ergiebige Einstiegsdroge und Verteiler für neue Hörgewohnheiten.