Touché Amoré und “Lament”: Tröpfcheninfektion

Album-der-Woche-Pro-Tipp: Einfach Touché Amorés neue Platte ganz laut laufen lassen, Augen zu und bei den markerschütternden Schreien von Sänger Jeremy Bolm ab und zu mal mit einer Sprühflasche ein bisschen Wasser ins Gesicht sprühen. Et voila: Konzertfeeling trotz Corona!

Melancholie, Traurigkeit, Wut. Das sind die emotionalen Steckenpferde der Emocore-Veteranen Touché Amoré. Das hat sich auch auf ihrer fünften Studio-LP nicht großartig geändert. Schon das Vocal-Intro des Openers “Come Heroine” stellt klar: richtig gut scheint es der Band nicht zu gehen. Mit kratziger Stimme tut Bolm seine Agonie kund, getragen von melancholischen Gitarrenmelodien, die für Touché Amoré verhältnismäßig unterschwellig daherkommen. Diese eher zurückhaltende Spielart findet sich auf dem ganzen Album wieder. Große Gesten werden präzise und bewusst immer dann eingestreut, wenn der Gesang sich eine kurze Atempause gönnt. Die Drums wechseln regelmäßig zwischen zurückgelehnten, rudimentären Rhythmen und hektischer Eskalation. Dieses Hin und Her zwischen ruhigen Momenten und lauten Gefühlsexplosionen findet im Track “Limelight” seinen Höhepunkt, wenn die schroffen Vocals von Jeremy Bolm mit den zerbrechlichen Gesangspassagen von Manchester-Orchestra-Sänger Andy Hull konterkariert werden.

Die Hektik und Sprunghaftigkeit der Instrumentale untermalt die emotionale Aufruhr, die Bolm in seinen Texten zum Ausdruck bringt, hervorragend. Mal als Schrei der Befreiung, mal in resignierter Selbstreflexion, lamentiert er gnadenlos ehrlich über seine eigene Gefühlswelt und kehrt so sein Innerstes nach außen. I’m a shell of my former self und I’ll be your host / against my will singt er auf dem Track “I’ll Be Your Host” und hinterfragt Beziehungen, die offensichtlich an seinen Gefühlen zehren. Wann ist genug genug? Die Texte auf “Lament” sind dabei nie angreifend oder aggressiv, stattdessen spricht aus den Lyrics ein erschreckendes Maß an Selbstreflexion. Der wohl größte textliche Rundumschlag versteckt sich im Closer “A Forecast”. Über sanfte Akkorde hält Bolm eine Ansprache und erzählt von vergangenen Erfahrungen, als würde er eine alte Bekannte auf den neuesten Stand bringen wollen. I've lost more family members / Not to cancer, but the GOP / What's the difference? / I'm not for certain / They all end up dead to me. Ein seltener politischer Seitenhieb von Touché Amoré und gleichzeitig ein selbstreferentieller Verweis auf ihr letztes Album “Stage Four”, auf dem sich die Band mit dem Krebstod von Bolms Mutter auseinandersetzte.

Bei all dieser tiefschürfender Emotionalität und instrumentalem Wechselspiel lässt “Lament” ein wenig musikalische Weiterentwicklung erahnen, die sich allerdings auf dieser Platte gerade erst andeutet. Touché Amoré sind eben immer noch Touché Amoré, “Lament” zeigt aber im Ansatz bereits, wo die Reise hingehen könnte. Man darf also gespannt bleiben, wohin sich der Sound der Band in Zukunft entwickeln wird.

Fazit

6.9
Wertung

Touché Amoré liefern auf “Lament” genug Altbekanntes, um 2000er-Emocore-Fans weiterhin abzuholen, und haben trotzdem einige Änderungen im Gepäck, die aufhorchen lassen. Eine durchaus starke Platte, allerdings bleiben große Überraschungen oder Schnörkeleien aus.

Kai Weingärtner
8.4
Wertung

Könnte man ein Album auf der grünen Wiese entwerfen, fernab von Diskographien und Fanerwartungen jedweder Art, so müsste es klingen wie „Lament“. Touché Amoré ziehen zwischen bedingungsloser Härte und melodischer Vielfalt alle Register und überzeugen auf gesamter Spielzeit. Ein Blockbuster für die Ohren.

Marco Kampe