Reviews

Friedemann und „Naiß“: Vordergründiger Friede

Soloprojekte können jene kreative Beinfreiheit schaffen, welche den jeweiligen Musiker:innen in ihren Hauptprojekten oftmals verwehrt bleibt. Zuweilen wird dies als implizite Aufforderung zu schwindelerregenden Höhen interpretiert (Peter Fox), in anderen Fällen verfällt man dann doch recht schnell in altbekannte Muster (Emigrate). Als Sänger von COR scheint Friedemann Hinz der erstgenannten Gattung näherzustehen.

Unwillkürlich stellt sich die Frage, inwieweit auf diesem Werk krampfhaft der Jugendsprache und ihren teils skurrilen Auswüchsen hinterhergeeifert wird. Im Stile des Vong-Jargons der 2010-er Jahre prangt auf dem Albumcover ein zweigeteiltes „Naiß“. Die Sirenen der Neuzeit erdolchen sich vor lauter Glückseligkeit selbst, eine Allegorie auf moderne Errungenschaften. Seien es nun die unmittelbaren Auswirkungen sozialer Netzwerke oder aber das Wachstum globaler Konzerne und ihr fraglicher Mehrwert für Kultur und Natur. Der haargenau richtig gewählte Kontext für das kritische Individuum.

Folgerichtig stellt Friedemann fest: „Kauft nicht bei Amazon!“ Das sichtlich eigeninitiativ produzierte Video ist die Antithese jeglichen Black-Friday-Kaufrauschs und kommt mit zerrissener Unterwäsche und nicht mehr auswaschbaren Kaffeeflecken ganz gut zurecht. Der Aufstand der Anständigen ereignet sich im heimischen Shop des Vertrauens - mit stets kurzen Lieferwegen, menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und einem persönlichen Schnack. An die Grenzen des Wachstums erinnert derweil der „Kleine Planet“. So manche Widersprüchlichkeit im Umgang mit der Natur ist aus der hier eigenommenen Vogelperspektive leichter erkennbar. Ein ausladender Song mit schönem Gitarrenspiel im C-Part. „Einfach unersetzlich“ - fragt sich nur, wie lange das noch so bleiben kann und wird? „Kind der Freiheit“ rundet die gesellschaftskritischen Anleihen als schwerwiegenden, vielversprechenden Ausflug in den Stoner-Rock ab. Der Spannungsbogen bäumt sich zu einer schäumenden Brandung auf und beruhigt sich dann final auf gemächlichem Niveau, ehe er behutsam an der Küste verebbt.

„Ein leichtes Herz“ gestaltet sich gekonnt repetitiv und kommt hierdurch umso eindrücklicher daher. Es ist auf viele Gegebenheiten anwendbar und kann, je nach Lesart, als Appell für globales Denken und Menschlichkeit verstanden werden. Dies passt zum kritischen Unterton, den „Naiß“ bereits auf den vorangegangen Songs ausgezeichnet hat. Der Titeltrack transportiert ein bedrohliches Szenario. Ignorante Klimawandelleugner, postfaktische Aluhüte und alle bequem sitzenden Zuschauer:innen dürfen sich angesprochen fühlen. Der Tod ist gleichmachend und offeriert Logenplätze für das Ende der Menschheit. Diese Wendung ist wenig überraschend, zeigt doch bereits der Opener melancholische, bedeutungsschwangere Vibes in direkter Erbfolge des Man in Black.

Demgegenüber hat das Rügener Urgestein Friedemann allerdings auch wahrhaftige Überraschungen auf seiner Kogge geladen. Wird das „Sommerende“ zutiefst wehmütig beschrieben, so klart sich die Stimmung trotz „Zerschlagenem Mund“ dann schnell wieder auf. Eine Geschichte, die Bonny & Clyde mit Stolz erfüllen würde. Sogar Ska-Anleihen („Ich Liebe Es Zu Wandern“) finden auf dieser Platte ein Zuhause. „Ich Mache Meinen Frieden“ ist letztlich musikgewordener Stoizismus, der zwischen den Zeilen reichlich Platz für Fantasien lässt. Ein gelungener, nur vordergründig friedvoller Abschluss.

Man kann „Naiß“ als kluge Bestandserfassung der westlichen Gefühlslage beschreiben, die sich nicht mit plakativen Kampfansagen begnügt, sondern Ambivalenzen aufzeigt und auf teils unangenehme Art und Weise erlebbar macht.

Fazit

7.9
Wertung

Ich habe (ohne jegliches Vorwissen) andere Töne erwartet, als ich den Pressetext zugespielt bekam. Anstelle von brettharten Punkrock-Vibes sind hier scharfsinnige Lyrics in gemütliche Lagerfeuermusik verpackt. Und das ist gut so.

Marco Kampe