Je unpersönlicher, desto unantastbarer ist man als Künstler auch. Das wussten bereits die Ärzte, die zu ihrer Anfangszeit mit ihrem kruden Humor um Inzest und Zoophilie auf dem Index landeten. Eine ironische Wendung, dass gerade im (deutschsprachigen) Hip-Hop, wo Realness und Authentizität doch unabhängig von der Strömung und sei es jetzt Fler, Casper oder Trettmann, eine große Rolle spielt, diese geradezu autobiographischen Zustände seit einigen Jahren ins genaue Gegenteil verkehrt: Schauspielrap ist das Genre der Wahl für Alligatoah, und das brachte ihn vor fünf Jahren mit „Willst Du“ aus seinem dritten Album „Triebwerke“ nicht nur auf die iPods der Gymnasien und Mainstream-Clubs des Landes, sondern auch auf Platz eins der Charts. Die immer vorhandene, aber immer nur als Lückenfüller verwendete Mixtape-Reihe „Schlaftabletten Rotwein“ erlangt mit ihrer fünften Ausgabe nun auch das Label eines richtigen Albums – nur, dass offiziell kein roter Faden vorhanden sein soll. Ob das mal so stimmt.
Wie bei jeder Alligatoah-Platte ist man beim ersten Hören erschlagen von der Wucht einer derartigen Kreativität. Lukas Strobel packt in eine Strophe mehr Wortwitz und Dreifachdeutigkeit als viele Rapper auf ganzen Alben. Zeilen wie „Es ist nie zu spät für pubertären Mitleidsdrang/Ich fang mit 70 mit dem Ritzen an“ („Ein Problem mit Alkohol“), oder „Wenn die Bremsen versagen/Hagelt es Spenderorgane/Kopf hoch“ („Alli-Alligaotah“) irritieren ob so viel Geschmacklosigkeit, aber nichtsdestoweniger auch mit ihrem Einfallsreichtum. Dabei schlüpft der 29-jährige in jedem Song in eine andere Rolle: „Freie Liebe“ erzählt aus der Sicht des polyamurösen Hippies, in „Wo kann man das kaufen“ spielt er einen konsumgeilen Teenager und „Meine Hoe“ führt moderne, feministische Emanzipation auf die Spitze. Keiner dieser Songs vergeht ohne maßlose Übertreibung und den lächerlich satirischen Fingerzeig, der manchmal nicht nur verstörend, sondern auch fragwürdig daherkommt – etwa, wenn er in „Meinungsfrei“ die politische Botschaft von Rechtsrock auf die Parole „Heimat!“ verharmlost. Guten Willen beweist dafür „Füttern verboten“, das mit einem cleveren Beat aus Natursamples metaphorisch wasserdicht gegen Nazis, Politiker und den Kapitalismus schießt und den temporären Status, Flüchtlinge medial als Problem Nummer Eins darzustellen, anstatt wirklich Menschen zu helfen, bitterböse karikiert: „Komm an den Zaun, wo die Flüchtlinge wohnen/Fotos erlaubt, aber füttern verboten“.