Kolumne

Als Max Herre Trap erklärte

Kurz vor der Coronapandemie veröffentlicht Ex-Freundeskreis-Mitglied Max Herre sein viertes Soloalbum – über 25 Jahre nach dem Start seiner Musikkarriere. Hohe Erwartungen an Zeitgeistigkeit oder gar Innovation würde man da üblicherweise nicht erwarten. Und doch plustert sich in „Athen“ einer der größten Momente der 2010er Rap-Jahre auf.
Max Herre

Es ist nicht erst seit dem immer schnellebiger werdenden Zeitalter der Popkultur so, dass Musikschaffende kaum noch Zeit haben innezuhalten – vor allem dann nicht, wenn man sich im Rap bewegt. Als Max Herre 1993 die späteren Freundeskreis gründete, war nicht nur die gesellschaftliche Welt, sondern auch die des Hip-Hops eine völlig andere. Bands wie Die Fantastischen Vier oder Blumentopf stehen für eine Art des Genres, die frei und leichtfüßig einen etwas entspannteren Lifestyle propagiert, als es der Rest des Spießbürgertums pflegt. Freundeskreis sind da mit ihren Texten auf dem Debütalbum „Quadratur des Kreises“ geradezu schwermütig unterwegs, aber auch sie verkörpern eine Form von Rap, der noch lange nicht das problematische Gangster-Image pflegt, wie es im Laufe der ersten Bandjahre geradezu zu einem Dogma wird. Aggro Berlin betritt die Bühne und Sido erzählt mit dem „Arschficksong“, dass Rap der Schrecken aller Eltern sein sollte und man Hip-Hop bloß von Kindern fernhalten sollte, wenn diese nicht mit 14 drogenabhängig auf der Straße enden sollten.

Freundeskreis stehen schon früh in ihrer Karriere für eine Alternative zum ganz großen Mainstream – und Max Herre erweist sich in diesem Zusammenhang nicht gerade als allerbeliebtester Protagonist für diejenigen Menschen, die Rap als persönlichen Pöbel-Spielplatz sehen. Kollegah formuliert so einmal in einem gemeinsamen Song mit Al Gear, wie gerne er Herre erschießen würde. So infantil dieser Provokationsversuch auch ist, so klar ist doch auch das Signal, aus dem es geschieht: Max Herre verkörpert in der Welt eines auf Gangstertum aufbauenden Raps eine Antithese zu jener Prämisse toxischer Maskulinität, die in der Szene den Inbegriff des Alphas darstellen. Er rappt über seine Gefühle, er ist ein eher schlaksiger Typ und man traut ihm zu, in Berlin matetrinkend auf einer Parkbank zu sitzen und dabei über Feminismus zu diskutieren. Herre ist über den Lauf seiner Karriere stetig mit einer Welt konfrontiert, zu der man auf keinen Fall gehören will – die ihm aber trotzdem zeigt, dass der heiße Scheiß gerade eigentlich woanders ist.

Vielleicht ist es Karma, dass Asi-Rap in Deutschland einige Jahre später deutlich an Konjunktur erlebt und speziell Kollegah mit irgendwelchen zwielichtigen Coaching-Programmen versucht weiter den Alpha raushängen zu lassen, während Herres Stil als deutlich zeitloser einfach weiterleben kann. Die Kulmination der immergleichen Provokationen und das tausendfache Betonen der eigenen Männlichkeit mussten sich irgendwann abnutzen, vor allem dann, wenn Geschlechternormen in immer mehr Teilen der Bevölkerung mittlerweile weniger schematisch und deutlich kritischer betrachtet werden. Trap ist insofern auch klares Feindbild für viele Protagonisten der alten und immer harten Gangster-Garde, aber im Unterschied zum Old-School-Stil von Freundeskreis werden die wilden Autotune-Fahrten auch tatsächlich von den Kids gepumpt. Das neue Zeitalter des Hip-Hops ist zeitgemäßer, aber nicht zwangsläufig moralischer. Was die neuen Rapper in ihrer Ästhetik an Maskulinitätsklischees einbüßen, machen sie durch Texte wieder wett. Fast noch schlimmer wird im Rausch der kapitalistischen Lüge des ewigen Wachstums das Narrativ des Materialismus. So schreibt RIN eine der vielzitiertesten Zeilen der deutschen Trap-Generation darüber, dass er Donnerstags Supreme einkauft.

Max Herre hätte in dieser Lage einfach so weitermachen können wie bisher. Er hat die Gangster-Ära überlebt, weil seine Musik eh für ganz andere Menschen gemacht ist, die es auch nach dem Fall Kollegahs noch gibt. Aber gleichzeitig zeichnen sich inmitten der neuen Welle an Rap-Interpretation auch vereinzelte Linien ab, die Herres Ideal viel eher entsprechen. 2017 veröffentlicht Trettmann sein Album „#DIY“, eine Interpretation von Cloud und Trap, die ein auf deutschem Boden bisher unbekanntes Potential des Sound offeriert. Melancholie, Reflektion, Introspektion sind die Schlagworte, die in den schweifenden Songs plötzlich auffindbar werden – Mittel also, die auch Max Herre in seiner Musik wiederfinden konnte.

2019, sieben Jahre nach seiner letzten Soloplatte, veröffentlicht Herre schließlich sein Album „Athen“ und passenderweise ist dort auch ein Song mit Trettmann drauf. „Villa auf der Klippe“ ergießt sich lyrisch an der Architektur Griechenlands, während das darin liegende Nostalgiegefühl gleichzeitig mit einer Erinnerung aus der Vergangenheit verknüpft wird. Herre und Trettmann finden in einer Welle zukunftsweisender Klänge gleichzeitig den Weg des Innehaltens, während der Rest der Trap-Welt damit beschäftigt ist, so fly wie nur möglich zu sein. Ein RIN verwendet eigentlich nur neue Sounds, aber bleibt im Grunde beim selben Rap-Brauchtum. Dabei haben die Klanglandschaften des neuen Genres ja gerade das Potential, ganz andere Narrative zu verkörpern. Deswegen klingt „Villa auf der Klippe“ so echt und nur deswegen ist Max Herre auf diesem Zug dabei – er hat eine Ästhetik gefunden, die eigentlich seiner Ästhetik entspricht und nicht derjenigen vieler anderer Rapper zu dieser Zeit.

In diesem Zusammenhang gelingt Herre die eigentliche Großtat auf dem Album aber schon einen Song vorher. Der Titeltrack „Athen“ eröffnet das Album und ist für den Rapper augenscheinlich ein derartig zentrales Kunstwerk, dass er extra dafür sogar einen ganzen Kurzfilm dreht. Eröffnet wird der Song von der griechischen Sängerin Melina Kana, die auf ihrer Landessprache darüber reflektiert, wie sie lernte zu lieben. Herres Thema in diesem Song ist das Scheitern auf halber Strecke, das Verlieren eines Menschen, mit dem man alles hinter sich lassen wollte. „Wir kommen nie bis Athen und du wolltest so sehr nach Athen“, heißt es in der Hook, in der Herre mit charakteristisch verzerrter Stimme, aber ganz ohne stilisiertes Autotune singt. Wieder ist sie da, die ungeheure Melancholie im Rahmen eines sphärischen Sounds, der deutlich verwandt mit dem Zeitgeist ist, aber doch ganz anders klingt.

Und doch passiert das Unglaubliche erst im Mittelteil. „Doch hier kommen wir leider nicht weiter“, schließt Herre einen weiteren Refrain-Durchlauf und beweist im nächsten Moment das Gegenteil, indem er einen Blick ganz weit zurückwirft. Für zwei Minuten interpretiert der Track seine verlorene Grundstimmung plötzlich in einem bandgetragenen Solopart, der kaum zufällig an den Stil David Gilmours erinnert – im Musikvideo wird sogar Pink Floyds berühmten „Live At Pompeii“-Konzert Tribut gezollt. Dieser Moment in „Athen“ ist es, in der Herre sich nach über 25 Jahren musikalische Erfahrung als der beste Versteher eines zeitgenössischen Sounds erweist, den er mit unglaublich viel Innovationsgeist in Szene zu setzen weiß. Das Pink-Floyd-Tribut steht hier nicht für eine bloße Retrospektive. Die Stimmung, die David Gilmours ekstatische Gitarrenarbeit bereits in den 70ern verbreitete, wird vielmehr als organische Kongruenz zum Sound der späten 2010er verstanden. Vor Herre hat das keiner begriffen, aber wer „Athen“ einmal gehört hat, der weiß, wie wahr das ist. Nach wenigen berauschenden Minuten senkt sich der Song wieder und Herre zitiert noch einmal den Refrain, bevor er kontrastierend dazu völlig ohne Effektgerät die letzten Zeilen mehr spricht als rappt. „Unser Drama ist nur selbstgemacht / Keine Saga und nicht heldenhaft / Nur wir beide die bemerken dass wir zu schnell gedacht haben es wär geschafft“, resümiert er mit Bitterkeit. Und dann: „Aufm Rasthof in Mazedonien sind wir aufgewacht. Ich geh zahlen, komm zurück – sie ist nicht mehr da.“ Ohne Beat. Ohne Reim. Nur noch Stille. Echter klang die Leere eines Abschieds nie.