Im Kreuzverhör

Im Kreuzverhör #46: Oberer Totpunkt - "Neurosen blühen"

Einmal monatlich stellt sich die Redaktion gemeinsam Platten außerhalb ihrer Komfortzone. Dieses Mal wirft Paula "Neurosen blühen" von Oberer Totpunkt in den Ring.

Ich bin eigentlich eher aus Zufall auf dieses Album, beziehungsweise auf diese Band gestoßen. Als ich 2020 als Aushilfe hinter den Kulissen eines Livestream Events gearbeitet habe, durfte ich mir natürlich auch den ein oder anderen Auftritt live im Konzertsaal anschauen. Eine der Bands hat mich schon alleine durch ihren Namen neugierig auf ihre Show gemacht, weshalb ich es mir natürlich nicht entgehen lassen hab, den Auftritt von Oberer Totpunkt anzuschauen. Schon nach wenigen Sekunden war ich fasziniert von ihrer abgespacten Musik, in Kombination mit diesem teilweise schon eher furchteinflößenden gesprochenen Textpassagen, wodurch sie es auch schaffen, diese bedrückende, beinahe schon beängstigende Stimmung in ihren Songs zu erzeugen.

Es ist eben dieser harte Gothic Wave, der irgendwie chaotisch, aber gleichzeitig auch bedacht klingt, in Kombination mit gesprochenen Textfetzen, die sowohl kühl als auch stark emotional aufgeladen wirken. Meiner Meinung nach ist das Album so in etwa das musikalische Äquivalent zu einem facettenreichen Wutausbruch, was halt gleichzeitig auch perfekt zum Albumtitel „Neurosen Blühen“ passt. Diese wutentbrannte Energie spürt man vor allem in Tracks, wie „Warum ich dich getötet hab“, der auch mein persönlicher Favorit auf der ganzen Platte ist, oder „Macht“, bei dem einem auch noch einmal der Einfluss dieser Textpassagen auf die Atmosphäre der Songs bewusst wird. Für mich ist es diese bizarre Grundstimmung, die man beim Hören augenblicklich spüren kann, die das Album so spannend macht.

Es ist also mal wieder Kreuzverhörzeit. Yippie! Ich muss zugeben, dass ich von Paulas Vorschlag definitiv überrascht war, hatte ich doch eher mit einer Art sperriger HipHop-Platte gerechnet. Stattdessen serviert sie uns mit “Neurosen Blühen” der Band Oberer Totpunkt (Sowohl Bandname als auch Albumtitel übrigens eine 10/10) grummelige Industrialmucke mit obskuren und bisweilen schlicht furchteinflößenden Texten. Ich fühle mich abgeholt. Das hier ist vielleicht eine der besten Platten, die ich durch das Kreuzverhör kennenlernen durfte (und dieses Hauptverb sollte hier ausnahmsweise mal nicht als “musste” gelesen werden)! Die Musik klingt wie Rammstein, aber viel feinfühliger und weniger schematisch. Gesang und Lyrics wecken erinnerungen an SAFIs geniales Album “Golem”. Es ist rough, es ist intensiv, es ist drüber, ich liebe es!

Es ist wirklich witzig, da erlebt man gerade einen wunderschönen Spaziergang in den lauen Abendstunden, ist ein leckeres Softeis und erinnert sich daran, dass ja noch ein Kreuzverhör Artikel aussteht und man das Album dafür doch endlich mal hören sollte. Also die Kopfhörer rausgeholt und freudig auf das Album „Neurosen Blühen“ der Gruppe Oberer Totpunkt geklickt, was kann schon passieren? Nun, sehr viel. Gefühlt wird es um mich rum auf einmal Zehn Grad kälter, alles wird trist und grau und trotz der Kälte ist mein Softeis nun geschmolzen und liegt auf dem Boden.

Mal im Ernst, was hier alles passiert, es ist kaum in Worte zu fassen. Ich war kurz stark angewidert, dann fasziniert und am Ende hellauf begeistert. Finsterster Industrial, welcher auf gesprochene Zeilen und teilweise die Metalriffs trifft, die es verdient hat. Auch bei den Texten hört die Grausamkeit des Seins dieses Albums nicht auf. Tötungsgründe, Eat the Rich Attitüden und irgendwas mit Nassau lassen Rammstein wie eine Kindergartenband aussehen, welche sich für ne Mark Fufzich Knallbonbons im Scherzartikelladen gekauft hat. Bei jedem Song saß ich verdutzt da und mir entfleuchte so gut wie immer ein Lacher, das Wort „Ohhh“ oder eine verzerrte Fratze. Meistens in der Reihenfolge. Egal wie psychisch stabil ihr seid, nach „Neurosen Blühen“ ist jeder etwas labil und das ist auch gut so! Hört dieses Album, am besten mit der ganzen Familie!

 

 

Nun hatte ich schon bessere Ideen, als in meiner Mittagspause in meinem Saunaverschlag, der sich Büro schimpft, dieses Album aufzulegen. Erstmal großen Respekt für Bandnamen und Albumtitel, selten ist beides eine klare 10 von 10. Im Weiteren war ich positiv überrascht, denn ich habe irgendwas deutlich kreuzverhöriges erwartet, sprich, irgendwas, was ich nur mit Beißzange anfassen würde, und auch nur um danach die Zange wegzuwerfen. Aber was sich da offenbarte, war zwar brutal anstrengend anzuhören, hatte aber durchaus seine Reize. Die Stimmung war in besagter Pause sowieso eher gedämpft, jedoch vermochte "Neurosen Blühen" die Stimmung in den immerhin deutlich kühleren Keller zu ziehen. Der Industrial-Punk-Alternative ist ein einziges Depressivum, mit gewissem Gewaltpotential, aber das klingt deutlich negativer als es klingt. Vielleicht nicht bei schlechter Stimmung hören. Oder vielleicht nur bei exzellenter Stimmung hören. Wenn man diese loswerden möchte. Oder anderen die Stimmung vermiesen  möchte. Auf dem Beifahrersitz. Als DJ.