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Bei Bedarf und "10 Jahre in 30 Minuten": Von der Rückschau nicht entmutigen lassen

Sechs Jahre war es mit Veröffentlichungen still geworden um die Berliner Band Bei Bedarf. Der Fokus lag auf Konzerten und Touren, auf das Sammeln von Bühnenerfahrungen. Diese Erfahrungen kommen dem neuen Album zugute. Mit „10 Jahre in 30 Minuten“ ist ein treibendes, kraftvolles Deutschpunkalbum mit schonungslosen Texten entstanden.

Mit ihrer EP „Abrechnung“ griff die Berliner Band Bei Bedarf bereits 2013 politische, gesellschaftliche und soziale Missstände in Deutschland auf. Ihr Debüt „Dichter und Henker“ (2016) führte diese Thematik weiter und pointierte dies vor allem textlich noch einmal.

Mit ihrem neuen Album „10 Jahre in 30 Minuten“ liefern die Bandmitglieder Atschy, Jacob Tee, Lukas E. und Marek Metronom nun eine Bestandsaufnahme der letzten zehn Jahre. Es scheint sich nichts verändert zu haben, denn Gesellschaft und Politik erleiden weiterhin Kontrollverluste und führen Alltagskämpfe. Es brennt weiterhin, wie es das Cover mit dem zerstörten Brandenburger Tor offenbart. Wie bei anderen Bands auch sorgte Corona dafür, dass Songwriting nur in Distanz möglich war. Aber aus den persönlichen Songideen entstand ein Album, das sich keineswegs zusammengeflickt anhört.  

Der Opener „Wahnsinn“ bohrt mit seiner Kapitalismuskritik schon direkt in die Wunde: „Kauf, Forrest, Kauf“ wirkt als Anfeuerung, den Kapitalismus-Kraken zu füttern.

Die Quintessenz des Albums liefert der Song „Keine Zweifel“. Nicht aufgeben ist die Devise und weiter gegen den ganzen Mist ansingen. Die Band greift die Punkrocker Normahl auf, die bereits vor 30 Jahren angeprangert hatten, dass mit deutschen Waffen weltweit gemordet wird. Und die Gesellschaft ignoriert dies weiterhin.

„Chemiebaukasten“ und „50 Meilen“ greifen ähnliche Themen auf. Einerseits flieht der Mensch vor der Realität, weil er sich selbst und die Welt nicht erträgt. Andererseits fehlt die Kraft, Veränderungen im eigenen Leben zu initiieren und sich der eigenen Bedeutung bewusst zu sein. Haben wir verlernt zu schwimmen und ertrinken deshalb in Alkohol und „Entertainment“? Gerade letztgenanntes Lied zeigt auf, dass es so einfach wie nie war, die eigene Denkfabrik auszuschalten. Den Gegensatz zum alltäglichen Scheitern des Freischwimmens bildet „Generation Amok“, das den Egoismus der heutigen Gesellschaft auf den Punkt bringt. Wie ein Amokläufer bewegen wir uns rücksichtslos durch unsere Lebenswelt. Den Blick narzisstisch auf uns gerichtet, bekommt der Begriff des ehemals als Weg in die Selbstständigkeit gemeinten Begriffs der Ich-AG somit eine neue, negative Bedeutung.

„Kleingarten-Idylle“ beginnt mit einem Reggae-Intro, welches aber rabiat durch den Wechsel auf typischen Punk zeigt, dass hier nichts idyllisch und leicht ist. Gleichgültigkeit und Misstrauen gegenüber der Welt und sich dabei so weit abzustumpfen, dass mensch die Welt nicht mehr wahrnimmt.

Den Blick auf eine Öffentlichkeit von Gewalt lenkt der Song „Das perfekte Verbrechen“, der vor amerikanischen Verhältnissen warnt, dass Gewaltausübung durch die Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit verkommt.

Der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensmittelpunkt stellt sich die Band im Song „Berlin“. Es geht um Lifestyle versus Überleben, um die Diskrepanz zwischen Gentrifizierung und den Menschen, die gesellschaftlich abgehängt werden. Berlin und Kreuzberg werden zu hippen Orten verklärt, die vergessen, dass es Menschen nicht so gut geht.

Im Track „Tourlaub“ wird die Liebe der vier Musiker zum Touren deutlich. Sie leben für diesen Moment, wenn Fans, Livemusik und Band verschmelzen und den Abend als Einheit erleben. Tour ist Urlaub, weil die Berliner das Touren einfach zufrieden macht.

Das Album schließt mit dem einzigen Akustiksong auf dem Album: „Gedankenmessi“, der die Überforderung des Alltags mit all seinen Eindrücken, Informationen und Reizüberflutungen thematisiert.

Die Songs sind im Aufnahmeprozess im Coffee Club in Berlin aus einzelnen Songschnipsel der Bandmitglieder zusammengefügt wurden, die in der erzwungenen Zurückgezogenheit der Pandemie entstanden sind. Das Zusammenspiel der einzelnen Instrumente ist ausbalanciert, wird überwiegend von Hi-Hat, Crash-Becken und Bassdrum dominiert. Dies verleiht den Songs einen blechernen, hingerotzten und sympathisch frechen Klang. Die Vergleiche mit Terrorgruppe, WIZO oder ZSK liegen nahe, musikalisch wie textlich. Aber mensch merkt dem Album an, dass die Jungs mit Enthusiasmus und Spaß ihre Musik machen, sich live als Quartett perfekt aufeinander eingestimmt haben und Bock haben, ihre Lieder endlich wieder live einzuspielen. Und das macht die Band und das Album so besonders.

Fazit

8.3
Wertung

Mit ihrem neuen Album zeigen die Berliner, dass es weiterhin Bedarf gibt, aufzuzeigen, dass sich in den letzten zehn Jahren nichts verändert hat. Unterlegt mit erfrischend-frechem Punkrock, der uns in 30 Minuten vor die Ohren knallt, dass wir uns noch immer in einer gesellschaftlichen und politischen Schieflage befinden. Schreit danach, die Band live zu erleben.

Frank Diedrichs