Schönbergs Ideenwelt lebt heute nach wie vor in der Arbeit vieler Komponist:innen weiter, aber wirkliche Akzeptanz in einem Massenpublikum haben auch in der Nachfolgegeneration nur noch die wenigsten gefunden. Die großen Orchester-Komponist:innen des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr die Bachs, Mozarts oder Beethovens, über die man heute noch an den Universitäten lernt. Heute heißen sie Hans Zimmer oder Ludovico Einaudi – Menschen, deren Musik manch Zyniker sicher rückwärtsgewandt oder konservativ nennen würde, das freilich durch das Unverständnis, dass diese Musik einer völlig anderen Tradition entspringt. Obwohl man das über einen Einaudi in seinem Werdegang zum Beispiel gar nicht sagen könnte. Schließlich studierte er noch bei Luciano Berio, einem der Pioniere der elektronischen Musik und der vielleicht einflussreichste italienische Avantgarde-Komponist seiner Zeit. Entsprechend klingen auch die heute kaum noch auffindbaren Kompositionen Einaudis völlig anders als das, was man heute von ihm kennt. Dass er aber gerade mit einer Art des Musikmachens zum erfolgreichsten Orchesterkomponisten seiner Zeit wurde, die mit gängigen Popstrukturen liebäugelt, ist bezeichnend für die Abkapselung derjenigen, die sich weiter das fragwürdige Label „Kunstmusik“ auf die Fahne schreiben.
Die schwerwiegendste Identitätskrise geschieht Mitte des 20. Jahrhunderts aber nicht nur bei den Avantgarde-Vertreter*innen, sondern auf der ganzen Welt zusammen. Adolf Hitler kommt an die Macht und sorgt mit seiner Gefolgschaft für eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Millionen Tote sind die Folge von jahrelangem Krieg und systematischer Massenvernichtung. 1945 ist Hitler gefallen, aber die Welt liegt in Schutt und Asche und eine ganze Generation ist traumatisiert. Wie lebt man weiter, wenn man all das erlebt hat? Wie macht man es mit sich selber aus, wenn man während der Nazi-Zeit vielleicht nicht laut genug war, wenn man es einfach hingenommen hat, wenn man es vielleicht sogar gar nicht wahrhaben wollte, was hinter den Toren der Konzentrationslager geschah? Wie weiterleben mit Menschen, die in ihren Köpfen immer noch an das Dritte Reich glauben? Und schließlich auch: Wie kann Musik angemessen das ausdrücken, was in den Köpfen der Menschen zu dieser Zeit vorgeht? Ist es gar blasphemisch, sich nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs plötzlich wieder so etwas Banalem wie Kunst zu widmen? Der Philosoph Theodor Adorno sagt so schließlich einen Satz, der die Sprachlosigkeit der Welt zu dieser Zeit wie kaum ein anderer auf den Punkt bringt: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchen die Komponierenden deswegen auch, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Nichts darf mehr an die Zeit erinnern, aus der das Grauen der letzten zwölf Jahre hervorgegangen ist. In einer Komposition von Olivier Messiaen entdecken einige Studierende bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt so zum Beispiel die Möglichkeit, eine völlig neue Art von Musik zu konstruieren, bei der jeder Ton in seine Grundbestandteile zerlegt und dann anhand eines großformatigen Plans im Werk untergebracht wird. Die sogenannte „serielle Musik“ ist geboren. Sie ist sehr eng mit mathematischen Methoden verknüpft und baut erneut auf den Ideen Schönbergs, aber auch auf denen seines Schülers Anton Webern auf. Viele sehen in dieser Musik ein bloßes Kalkül und die Maximalherrschaft der Musikschreibenden, die den Interpret:innen überhaupt keine Freiheit mehr lassen. Vielleicht ist es auch gerade diese eingepferchte Ästhetik und dieses Suchen nach festen Regeln und Halt, die die Beklommenheit der Nachkriegszeit am besten widerspiegelt.