Bei der anschließenden Pressekonferenz im Cage-Haus versuche ich, mindestens ebenso geschäftig zu wirken wie meine „Kollegen“ von der Zeit und der New York Times neben mir, dann geht es in die Kirche. Der Raum hat etwas Sakrales: An den unverputzten Wänden hängen Tafeln von Spendern, jede einem der 639 „Klangjahre“ zugeordnet. Manche tragen die Namen ihrer Geldgeber, auf anderen stehen Zitate, Sprüche, mathematische Formeln. Eine ruft „da capo!“. Hinter der für die Journalisten aufgebauten Tribüne versteckt sich ein riesiger Blasebalg, der die hell erleuchtete Orgel im Zentrum mit einem stetigem Luftstrom versorgt. Die fünf Orgelpfeifen sind nun deutlich zu hören. Es ist kein monotoner Klang, er lebt und wabert und verändert sich mit der Position im Raum. In einer Ecke der Kirche formt er sich zu einem Puls, in einer anderen surrt er gleichmäßig vor sich hin. Spätestens jetzt bereue ich es, mir nicht mehr Zeit genommen und diesen Ort bereits am Vortag besucht zu haben. Eine riesige Traube von aufgeregten Medienmenschen erscheint mir nicht die richtige Begleitung, um dieses Kunstprojekt das erste Mal zu erleben.
Die Zeremonie beginnt mit einer kurzen Einleitung von Prof. Neugebauer, der die Besucher auffordert, ein letztes Mal den jetzigen Klang wahrzunehmen. Er würde so nie wieder zu hören sein. Seinem Aufruf wird Folge geleistet. Selbst die Fotografen, die eben noch wild miteinander diskutierten, lauschen für einen Moment in andächtiger Stille – ziemlich genau für 4 Minuten und 33 Sekunden. Dann ist es soweit: Die erste „Organistin“ Johanna Vargas bekommt die große gis-Pfeife gereicht, die sie in die Orgel einsetzt. Es folgt Julian Lembke mit dem e‘. Ein kurzer Luftzug, wie als wenn der Wind um die Ecke bläst, dann greift die Pfeife in die Fassung und der neue Klang erfüllt den Raum. Niemand sagt einen Ton. Neugebauer, Vargas und Lembke stehen regungslos nebeneinander. Der Moment zieht sich. Unsicherheit macht sich breit – war’s das? „Das war’s“, verkündet Neugebauer, nachdem ein aufbrandender Applaus die Stille bricht. Die Kirchtür hinter der Orgel geht auf und die Drei verschwinden in die Helligkeit. Manche stehen noch da und lauschen mit geschlossenen Augen dem Klang, andere streifen durch die Kirche oder schaffen ihr Kamera-Equipment nach draußen, wo sich bereits eine lange Schlange von Wartenden gebildet hat.