„If You Celebrate It, It’s Art“ – Klangwechsel in Halberstadt

Halberstadt, Sachsen-Anhalt, irgendwo am Rande des Harzes. Bereits auf dem Weg zur Konzertlocation kommen mir Zweifel an meinem Zeitplan. Gerade einmal eine halbe Stunde habe ich mir für den Rückweg zum Bahnhof gegeben, nur zieht sich der Gang entlang der urigen Fachwerkhäuser und nicht ganz so urigen Plattenbauten nun schon deutlich länger, als es mir lieb wäre.

Das „Konzert“ zu dem ich möchte, bemisst sich in ganz anderen zeitlichen Dimensionen: 639 Jahre soll die Halberstädter Interpretation von „ORGAN²/ASLSP“ dauern, einem Werk des amerikanischen Avantgardisten John Cage. Der Clou steckt im Namen: ASLSP – As SLow aS Possible. Eine typisch ambivalente Anweisung von einem Komponisten, dessen wohl berühmtestes Stück „4‘33“  aus viereinhalb Minuten Stille – oder besser – der Abwesenheit von intendierten Tönen besteht. Wie langsam „so langsam wie möglich“ denn nun sein solle, erklärte Cage natürlich nie. So ist auch die Dauer des Stücks eher Interpretationssache. Bei der Uraufführung 1989 dauert es noch flockige 29 Minuten, für das verschlafene Halberstadt viel zu hektisch. Hier legte man die Fertigstellung der berühmten Dom-Orgel im Jahr 1361 zu Grunde, die zum Start des „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekts“ am 5. September 2000 exakt 639 Jahre zurücklag. Nach mehrjähriger Stille (das Stück beginnt mit einer Pause) erklang 2003 der erste Ton auf der speziell für diesen Zweck gebauten Orgel in der Sankt-Burchardi-Kirche, die seither ununterbrochen spielt. Alle paar Jahre ändert sich mal wieder eine Note. Das kleine Örtchen entwickelt sich dann regelmäßig zum Pilgerort für Cage-Jünger und Journalisten aus der ganzen Welt, die den Klangwechsel entsprechend zelebrieren. Heute, an diesem 5. September 2020, ist es wieder soweit: Zu den seit 2013 erklingenden Orgelpfeifen c‘, des‘, dis‘, ais‘ und e‘‘ kommen zwei Neue – gis und e‘ – hinzu. Und ich bin dabei.

Die Orgel in der Sankt-Burchardi-Kirche. Die Tasten werden von Sandsäcken heruntergedrückt, die Töne lassen sich nur durch das Einfügen oder Wegnehmen von Orgelpfeifen ändern. 

Natürlich ist in diesem Jahr alles anders. Zwängten sich zum letzten Klangwechsel vor sieben Jahren noch rund 1500 Besucher in die Burchardi-Kirche, musste der Zugang aufgrund der Pandemie und wegen ernster Sicherheitsbedenken erstmals reduziert werden. Live dabei sein dürfen dieses Mal nur akkreditierte Medien und Käufer sogenannter Spendertickets, die dem chronisch klammen Projekt die finanzielle Zukunft erleichtern sollen. Alle weiteren Besucher können den Klangwechsel zunächst nur auf einem Bildschirm vor der Kirche mitverfolgen, ehe sie in Kleingruppen eingelassen werden, um den neuen Klang zu bestaunen.

Auch wenn das große Gedränge in diesem Jahr ausbleiben muss, ist bereits einiges los, als ich den Vorplatz der Burchardi-Kirche erreiche. Kamerateams wuseln über den Innenhof und jagen mit ihren Tonangeln nach ersten Takes. Leichte Beute finden sie bei in einer jungen Reisegruppe, die sich mit ihren Instrumenten im Zentrum des Platzes niedergelassen hat und Lagerfeuer-Lieder trällert. Ein Rentnerpärchen hat sich mit Klappstühlen die besten Plätze vor dem Bildschirm an der Kirche gesichert, aus der gut vernehmlich ein sonorer Ton dringt. Die Stimmung ist friedlich und dezent feierlich. Professor Neugebauer, der Mit-Initiator und inoffizielle Zeremonienmeister des Projekts, sitzt rücklings auf einen Stuhl im Hof und spricht mit einer Gruppe Journalisten. Er hat einen Rauschebart und trägt einen schwarzen Anzug. Lässig über die Lehne gelehnt plaudert er über das Projekt: „Ich glaube, die Hälfte der Halberstädter kennt das Projekt nicht. Und für 95% der anderen Hälfte ist es keine Musik. Trotzdem sind wir sehr froh, hier zu sein“, sagt er. Es beginnt zu regnen.

Prof. Neugebauer zeigt auf die Partitur

Prof. Neugebauer zeigt auf die Stelle in der Partitur, die heute gespielt wird. 

Bei der anschließenden Pressekonferenz im Cage-Haus versuche ich, mindestens ebenso geschäftig zu wirken wie meine „Kollegen“ von der Zeit und der New York Times neben mir, dann geht es in die Kirche. Der Raum hat etwas Sakrales: An den unverputzten Wänden hängen Tafeln von Spendern, jede einem der 639 „Klangjahre“ zugeordnet. Manche tragen die Namen ihrer Geldgeber, auf anderen stehen Zitate, Sprüche, mathematische Formeln. Eine ruft „da capo!“. Hinter der für die Journalisten aufgebauten Tribüne versteckt sich ein riesiger Blasebalg, der die hell erleuchtete Orgel im Zentrum mit einem stetigem Luftstrom versorgt. Die fünf Orgelpfeifen sind nun deutlich zu hören. Es ist kein monotoner Klang, er lebt und wabert und verändert sich mit der Position im Raum. In einer Ecke der Kirche formt er sich zu einem Puls, in einer anderen surrt er gleichmäßig vor sich hin. Spätestens jetzt bereue ich es, mir nicht mehr Zeit genommen und diesen Ort bereits am Vortag besucht zu haben. Eine riesige Traube von aufgeregten Medienmenschen erscheint mir nicht die richtige Begleitung, um dieses Kunstprojekt das erste Mal zu erleben.

Die Zeremonie beginnt mit einer kurzen Einleitung von Prof. Neugebauer, der die Besucher auffordert, ein letztes Mal den jetzigen Klang wahrzunehmen. Er würde so nie wieder zu hören sein. Seinem Aufruf wird Folge geleistet. Selbst die Fotografen, die eben noch wild miteinander diskutierten, lauschen für einen Moment in andächtiger Stille – ziemlich genau für 4 Minuten und 33 Sekunden. Dann ist es soweit: Die erste „Organistin“ Johanna Vargas bekommt die große gis-Pfeife gereicht, die sie in die Orgel einsetzt. Es folgt Julian Lembke mit dem e‘. Ein kurzer Luftzug, wie als wenn der Wind um die Ecke bläst, dann greift die Pfeife in die Fassung und der neue Klang erfüllt den Raum. Niemand sagt einen Ton. Neugebauer, Vargas und Lembke stehen regungslos nebeneinander. Der Moment zieht sich. Unsicherheit macht sich breit ­– war’s das? „Das war’s“, verkündet Neugebauer, nachdem ein aufbrandender Applaus die Stille bricht. Die Kirchtür hinter der Orgel geht auf und die Drei verschwinden in die Helligkeit. Manche stehen noch da und lauschen mit geschlossenen Augen dem Klang, andere streifen durch die Kirche oder schaffen ihr Kamera-Equipment nach draußen, wo sich bereits eine lange Schlange von Wartenden gebildet hat.

Diese Zeit habe ich leider nicht mehr. Für mich geht es – as fast as possible – zum Bahnhof und zurück nach Hamburg. Doch bereits bei meinem Sprint entlang der B81 beschließe ich, noch einmal wiederzukommen. Irgendwann in den nächsten 619 Jahren werde ich schon einen passenden Termin finden. Ob das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt bis dahin überhaupt Bestand hat, lässt sich schwer sagen. Heute standen die Besucher mit Mund-Nasen-Masken um die Orgel, in ferner Zukunft werden es vielleicht Strahlenschutzanzüge sein, wer weiß das schon. „Organ²/ASLSP“ ist eben mehr als ein Gag für Nerds und Skurrilitäten-Jäger, sogar viel mehr – ein Menschheitsprojekt? John Cage hätte dieser Halberstädter Schritt ins Ungewisse jedenfalls sicherlich gefallen, er liebte offene Fragen: „That is a very good question. I should not want to spoil it with an answer“, pflegte er zu sagen. Heute wäre er 108 Jahre alt geworden.