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Mirror Glaze und "All Change Please": Ausbruch aus dem Unveränderlichen?

Sebastian Lutz hat schon als Mitglied der Band Mokicks und in seinem Solo-Projekt Love Propagators musikalisches Geschick bewiesen. Aber mit seiner aktuellen Band Mirror Glaze erfindet er die Musik der 60er- und 70er-Jahre neu. Entstanden ist ein Album, das nach Veränderungen schreit.

Bereits 2020 machte die Hamburger Band Mirror Glaze auf sich aufmerksam, als sie über das unabhängige Label La Pochette Surprise Records ihre EP „At The Sugar Factory“ auf MC veröffentlichten. Die Songs bestachen dort auch schon mit einem wilden Mix aus unterschiedlichen Genres wie Garage Rock, Punk oder kalifornischer Surfer-Mucke. Kein Wunder, dass sie sich selbst als „Garage Surfers from Hippie Beach“ bezeichnen. Nun folgt endlich der lang ersehnte Longplayer.

Das gesamte Album kumuliert in einer wesentlichen Aussage: alles muss sich bitte verändern. Denn die Zustände, die in den Texten der einzelnen Songs beschrieben werden, dulden keine Stagnation. Der gesellschaftliche und individuelle Ist-Zustand wird in den Lyrics auf die Protagonist:innen projiziert: Menschen, die in Armut („Beggar Lilli“) leben, in der Bubble des Fake Content der Sozialen Medien („Boyfriends Of Instagram“) gefangen sind, und Selbstkasteiung („Self Immolation“) betreiben. Aber ebenso wird deutlich, dass Betäubung („Ketamin Kisses“) und Versinken in anderen Sphären („Drift Away“) nur Zeichen von Realitätsflucht sind. Und dann hilft letztlich nur: „All Change Please“!

Textlich einer der interessantesten Lieder ist „German Fall“. Die Thematisierung des Deutschen Herbstes 1977 und der RAF aus der Innensicht eines Terroristen ist mit Sicherheit gewagt, da Erpressung und Entführung als Mittel zum Zweck bezeichnet werden. Aber letztlich steht auch hier der Wunsch nach (politischer) Veränderung im Vordergrund.

Im Vergleich zur Vorgänger-EP verlangen die vier Musiker:innen um Mastermind Sebastian Lutz ihren Instrumenten noch mehr ab. Noch rotziger, noch mehr den Musikstilen der 60er und 70er Jahren verbunden. Der Sound treibt die Hörenden mit riff-lastigen Gitarrensound (Olçayto) mit herrlich-verzerrten Soli, treibendem Bass (Nat Glaze) und Drums (Marf Mabo) vor sich her. Die wenigsten Songs vergönnen eine Pause. Neben der rauchig-punkigen Stimme von Sänger Angry Lutz sticht Bassistin Nat durch ihren Gesang hervor, der zwischen schrill und kühl-distanziert schwankt. Das Label selbst bezeichnet die Musik der Band als hätten Bob Dylan und Patti Smith gemeinsam Nachwuchs bekommen. Und sie haben nicht ganz Unrecht, denn Nat und Angry scheinen deren Songwriting von Beginn an aufgesogen zu haben, nur um es für sich weiter zu perfektionieren. Und Dylan selbst kommt zu Wort, wenn er als Troubadour in „All Change Please“ den Wunsch nach Veränderung und Flucht aus dem Gegenwärtigen zu verhöhnen scheint: „No Direction Home“! - Es scheint keinen Weg zu geben...

Fazit

8.3
Wertung

Für ein Debüt klingt "All Change Please" ganz schön abgeklärt. Die Hamburger Band bedient sich dem Rock'n'Roll der 60er ebenso wie dem Garage Rock und Punk der späten 70er Jahre, als hätte sie nie etwas anderes gespielt. Die Texte, die Veränderungen der gesellschaftlichen und individuellen Zustände einfordern, werden von kühl bis rauchig in tiefer Symbiose zur Musik gesungen. Lange wurden die Sixties und Seventies nicht mehr so authentisch ins Hier und Jetzt transportiert.

Frank Diedrichs