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Leftovers und "Müde": Herausfordernde Abwechlung

Leftovers aus Wien haben mit "Müde" ihr zweites Album auf die Menschheit losgelassen. Okay okay, das klingt vielleicht drastischer als es wirklich ist. Doch fest steht: Dieses Album ist ein deutschsprachiges Punk-Grunge-Rock-Geschenk, welches erst einmal verarbeitet werden will.

Die Dinge, die Leftovers auf "Müde" behandeln, sind alles andere als leichte Kost und die dunkle Szenerie des Covers schwebt über großen Teilen der Spieldauer des Albums. Das erste, was man nach dem Einlegen dieser Platte hört, ist die von einer Siri-Stimme vorgelese Definition einer Angststörung. Der dazugehörige Song "System" legt den Fokus direkt zu Beginn weg vom Punk und auf den rockigen Part der hier gewählten Genredefinition. Der Text wird mehr geschrien als wirklich gesungen und die Instrumente der Band sperren den Track in einen agressiven Käfig. "Zertrümmer meinen Brustkorb, ich schenke dir mein Herz!" - wenn der Opener bereits so sitzt, macht das direkt ordentlich Lust auf mehr. Generell sollte hier nicht vom allzu gut bekannten aus drei Akkorden bestehenden Typus Punkrock ausgegangen werden. Leftovers klingen tiefgängiger, dunkler, facettenreicher und ernster.

Die nicht ganz so einfachen Themen lassen im Verlauf des Albums nicht nach. Sangen die Ärzte damals von "Sommer, Palmen, Sonnenschein", würden Leftovers im Direktvergleich den Finger in die Wunde legen und die Gesamtsituation aufgrund von Klimawandel und Dürren in Frage stellen. Doch auch wenn sie das auf diesem Album nicht getan haben, geht es um andere ernstzunehmende Dinge: "Ohne dich", gesungen von Bassistin Anna, dreht sich um eine toxische Beziehung. Was am Anfang noch nach Liebeslied klingt, mündet in Zeilen wie "Ich bin nur ich, wenn du nicht bei mir bist." In "Risse" als weiteres Beispiel geht es um den Umgang mit Rauschmitteln ("Warum trinke ich, obwohl ich weiß, dass es mir nicht gut geht?"). Leftovers machen es sich selbst nicht einfach, und denjenigen, die dieses Album in die Finger bekommen erst recht nicht. Dass alle Bandmitglieder auf "Müde" neben ihren Instrumenten auch Gesangsparts übernehmen, bietet Leftovers enorme Möglichkeiten, ihre Musik auf verschiedenste Art und Weise zu vertonen. Dafür, dass diese Band nicht nur auf dem Papier, sondern auch an Lebensjahren gemessen mit Anfang 20 noch sehr jung daher kommt, brauchen sich Leftovers keineswegs zu verstecken.

Es sind die Titel der Songs, die die Marschrichtung von "Müde" verraten: "du bist schon tot bevor du lebst", "Gegen die Wand", "Kalt", "Es tut weh". Letzterer ziegt wie gut bei Leftovers ruhigere, sich steigernde Strophen mit einem Refrain funktionieren, der beinahe an Nirvana erinnert. Wenn die Zeile "es tut weh, es tut weh, ich geh zum nicht Arzt" dann so gesungen wird, als käme der Schmerz aus den tiefen Inneren mit den Wörtern aus dem Mund heraus, geht das tief ins Mark. "Schau mir alte Menschen an, ich glaub, sie sind verrückt" in "Kalt" so zu singen, als wäre man selbst von allen guten Geistern verlassen, ist genauso wenig Zufall. Leftovers laden mit diesem Album all diejenigen auf eine Reise durch die Gefühlszustände ein, die es sich in der Wolhlfühloase zwischen Sommer, Palmen und Sonnenschein zu bequem gemacht haben.

Fazit

6.9
Wertung

Es liegt eine dunkle Stimmung über diesem Album. Und dennoch hatte ich viel Spaß mit "Müde"! Leftovers kanalisieren Gefühle, bringen diese Emotionen echt und intensiv rüber. Wer sich darauf einlässt, bekommt von den Östereicher:innen schonungslos vor Augen geführt, wovor viele diese Augen lieber verschließen würden.

Mark Schneider